Dahomey

In Mati Diops letztem Spielfilm Atlantique (2019) geht es um die quälende Ungewissheit derjenigen, die von Geflüchteten zurückgelassen werden, wenn diese in Hoffnung auf eine bessere Zukunft das Meer überqueren. Wobei der Atlantik zum mächtigen, diffusen Medium des Verschwindens wird. In Dahomey, der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale lief und den Goldenen Bären gewann, wird diese Reise invertiert – hier ist es die Ungewissheit bei und nach der Rückkehr von geraubten Kulturschätzen ins Heimatland, die im Zentrum steht und in Diops Werkchronologie auf die Geschichte derjenigen folgt, die geblieben sind. In ihrem neuen Dokumentarfilm widmet sich die senegalesisch-französische Regisseurin dem Thema der Restitution. 2021 wurden 26 Exponate aus Pariser Museen an ihr Herkunftsland, dem heutigen Benin, zurückgegeben. Diese zählen zu Tausenden an Kulturschätzen, die 1892 von Frankreichs kolonialen Truppen gestohlen wurden. In Dahomey wird dem Transport der kulturellen Gegenstände gefolgt; wie sie aus ihren Vitrinen genommen, mit Gabelstaplern und Metallketten verfrachtet und in verschraubte Boxen verpackt werden.

Als sich diese schließen, verbleibt die Kamera mit der Skulptur in der Dunkelheit; eine Entscheidung für die absolute Empathie, die das Bett für ein mutiges Stilmittel bildet. Das reale Schwarz wird zu einem Duraschen Schwarz ausgedehnt; wobei das Entfremdende, das bei Marguerite Duras zwischen Bild und Ton entsteht, hier in Richtung Science Fiction gerückt wird. Denn das eingeschlossene Exponat, die Götterskulptur, beginnt mit einer tiefen, metallisch-galaktischen Stimme zu sprechen. Ein diffiziler Griff, der in anderen Inhaltskontexten leicht im Kitschig-Pathetischen landen und die Ernsthaftigkeit des Inhalts im Formalen gefährden kann1Bénédicte Savoy beendet ihre Antrittsrede am Collège de France (2017) mit folgenden Worten: “Und wäre ich hier alleine und wäre der Anlass zu dieser Vorlesung nicht so feierlich und würde ich fürchten, ihnen wunderlich vorzukommen, dann würde ich mich zu meinen drei Freundinnen [drei mitgebrachte, ihren Heimatländern entwendete kunsthandwerkliche Figuren] hier beugen und sie […] vorsichtig fragen, was sie von dem Ganzen halten.” Mati Diop wagt dies. Aus: Savoy, Die Provenienz der Kultur, Berlin 2018, S. 59. ; wenn es denn ernst gemeint ist. Allerdings ist es die Stimme des kolonialen Leids, die Stimme der Geraubten und Beraubten, die hier gewaltig und ächzend spricht. Ihre metallische Verfälschung und Klanggewalt trägt die Tiefe und Schwere der Folgen von Jahrhunderten kolonialer Ausbeutung.

Als die Skulpturen im Beniner Museum ankommen, wird das Dokument zu ihrem konservatorischen Zustand verlesen, die vom französischen Museum ausgestellt wurde. Der Befund allein ist nahezu ein Beweis gegen das vorherrschende Argument, die Ursprungsländer hätten keine finanziellen Mittel, museale Infrastruktur und Fachpersonal, um sich angemessen um den Erhalt der Exponate zu kümmern. Denn ihr Zustand wird durchweg als mittelmäßig bewertet. Auch wenn das kein faktischer Beweis ist – des meist fragilen Holzes wegen, das sich mit dem Alter verzieht und porös wird –, allerdings stellt es einen essentiellen Anstoß dar, der zu einem Umdenken dieser neokolonialen Denkstrukturen anstößt. Die Starrheit und das Mechanische der Szenen im Pariser Museum werden durch eine Ästhetik des Fluiden im Museum in Abomey kontrastiert. Das Bild einer offenen Eingangstür mit wehendem Vorhang und Überblendungen von Blumen bei Nacht stehen in ihrer Symbolik für sich.

Am Ende des Films wird die Frage der Restitution in einem Plenum von Studierenden der Universität Abomey-Calavi diskutiert. Oft wird davon gesprochen, dass mit den heiligen kulturellen Gegenständen die Seele der Beniner gestohlen wurde. Das Voiceover über Duraschem Schwarz ist somit nicht nur das Verleihen einer sprechenden Subjektivität des einzelnen Exponats, sondern eine Art von symbolischem Zurückgeben von etwas Seelischem und etwas Mythischem, das durch die sterilen und trockenen Räume, Museumslager, Boxen und kalten Vitrinen eingehegt wurde. Die Rundungen ihrer alten, hölzernen Körper und ihre zoo-und anthropomorphen Formen wirken verstummt in ihren Käfigen aus glattem Glas. Der Kunstkritiker Carl Einstein bezeichnete 1926 das Museum für Völkerkunde als „Kühlkammer weißer Wißgier“, in welcher der „Fang […] abgestorben“2Carl Einstein, Das Berliner Völkerkunde-Museum. Anläßlich der Neuordnung, in: Der Querschnitt (1926), S. 590. ruht. Isoliert und vakuumiert im Musealen sind die Beniner Götterskulpturen ihrem ursprünglichen rituellen Kontext entfremdet und in Nummerierungen statt Namen inhaftiert. Als Exponat Nr. 26 zu sprechen beginnt, wird ein Objekt zum Subjekt. Sie ist zugleich subjektivierte Stimme, die von Träumen und Ängsten erzählt, als auch Universalstimme, die spirituelle Agency verleiht und Sprachrohr von Jahrhundertschichten eines kollektiven Traumas ist.

Mehr noch wird die Frage danach gestellt, ob das Museum überhaupt der richtige Ort für diese rituellen und religiösen Gebrauchsgegenstände ist, die eigentlich in tägliche religiöse Praxis eingebunden waren. Diese Frage nach der Lebendigkeit von Kultur und der Ethik des Desakralisierens von heiligen Gegenständen wird in der Debatte der Studierenden kontrovers diskutiert. Einige fühlen sich von diesen alten Kulturschätzen komplett entfremdet und distanziert, andere sind tief bewegt vom Anblick dieser Kunstwerke und empfinden die Begegnung mit ihnen als identitätsstiftend im Hinblick auf die Unterdrückung und Devalorisierung ihrer Kultur durch die Europäer; als optimistischer Anfang und Gegenbewegung zu kolonialen Narrativen wie die der weißen Überlegenheit, die auch die Kindheit der jungen Studierenden im Film geprägt haben. Wiederum andere sehen die Ausgangslage zur Wiederinbesitznahme kultureller Güter als rein idealistisch und realitätsfern. Durch die schwache Ökonomie Benins – auch eine Spätfolge der kolonialen Ausbeutung – verfügt ein Großteil der Bevölkerung nicht über ausreichend finanzielle Mittel, um das Museum zu besuchen und ihr kulturelles Erbe in Besitz zu nehmen. Und kann überhaupt auf Französisch, der Sprache der Kolonialherren, über Dekolonialisierung gesprochen werden? Die Stimme der Götterskulpturen ausschließlich in einer lokalen lingua franca sprechen zu lassen, ist eine bewusste politische Setzung. Auch hier lehnt sich der Film an Savoy an, die die Rolle der Sprache für ein Umdenken des westlichen Begriffs von Kulturerbe betont. Das Wechseln von einer Sprache in eine andere gehe mit einem Übergang „von einem kollektiven Gefühls-und Orientierungssystem in ein anderes“ einher3 Savoy, Bénédicte: Die Provenienz der Kultur, Berlin 2018, S. 8..

Der Film hört alle diese Positionen und porträtiert so differenziert die Lage. Die Frage wird aufgeworfen, ob Kultur etwas Lebendiges oder etwas zu Konservierendes ist und sein sollte, zu dessen Zugänglichkeit Privilegien automatisch vorausgesetzt sind. Trotz einer gewissen optimistischen Offenheit nimmt der Film letztlich doch recht klar Stellung, indem die rituellen Artefakte als Lebendiges hörbar gemacht werden. Gegen Ende des Films heißt es im Voiceover: „Ich bin das Gesicht der Metamorphose, ich sehe mich deutlich durch euch“. Gelebte Kultur sollte höher geschätzt werden als das stumme Museale. Das Museum wird in diesen Worten zu einem Käfig, einem Gefängnis des Postkolonialen, in dem afrikanische Kultur verschlossen wird. Nach der Verfrachtung über den Atlantik sagt die Stimme der Skulptur, sie könne immer noch die Ketten rasseln hören und noch immer liege ihr der Geschmack von Salzwasser auf der Zunge. Sklaven wurden über den Atlantik geschifft, in Ketten; Asylsuchende ertrinken auch heute noch im selben Meer. Bénédicte Savoy macht, angelehnt an Barbara Cassin, eine etymologische Analogie zwischen den französischen Begriffen Auswanderer (expatriés) und kulturelles Erbe (patrimoine) auf. Sie haben ihr zufolge ein gemeinsames Schicksal – für die einen anwesend und für die anderen abwesend4Ebd., S. 9. . Auch Diop ist sich dieser Parallele bewusst und vertieft diesen Savoyschen Gedanke in ihrem Film. Doch dieses Aufdecken bitterer Analogien findet bei Diop nicht nur verbal statt. Die poetisch-präzisen dokumentarischen Einstellungen machen dabei die Absurdität der Ähnlichkeit des Transportprozesses der Restitution mit dem des ursprünglichen Raubs sichtbar und enthüllt ersteren dabei als einen sich wiederholenden Verschleppungsprozess von in mehrfachem Sinne deplatzierten Artefakten, denen durch jene Subjektivierung etwas Menschliches und Übermenschliches innewohnt. 

Dahomey scheint sich zunächst nicht dezidiert politisch zu positionieren, sondern vornehmlich ethische Fragen zu stellen. Diese finden aber ihren primären Impuls in den Sorgen und Wünschen der Beniner Jugend. So liegt das Politische in der Entscheidung, wen Diop sprechen lässt. Denn keine Europäer*innen kommen zu Wort. Der Film zieht sein kraftvoll-unversöhnliches Fazit im Voiceover, in den Worten der Geraubten: „Ich werde niemals vergessen.“ Auch die Restitution könne vergangene Verbrechen und kulturelle Entwurzelung nie wieder rückgängig machen. Die letzte Botschaft des Films steht im Geiste Frantz Fanons, der in „Black Skin, White Masks“ eine Theorie des kollektiven emotionalen Traumas etabliert, das durch koloniale Gewalt und Rassismus über Generationen anwesend ist5Fanon, Frantz (1967): Black Skin, White Masks, New York, S. 150.. Die Durasche Idee des noir atlantique als immersiv Fließendes, das die Betrachtenden in einen traumhaften Zustand zieht, bekommt in diesem Kontext eine düstere Konnotation. Es wird zum Medium, das den Optimismus des Wandels mit Bitterkeit verbindet. Eine dunkle Leerstelle, die so gerne in der europäischen Geschichtsschreibung vergessen und verdrängt wird; ein Sinnbild der Nachwirkungen kolonialer Verbrechen, diffus und zeitlich tief. Der schwarze Bildschirm ist gleichzeitig Trauer und hoffnungsvoller Aufbruch in eine ungewisse Zukunft, in der die Beniner selbst entscheiden werden, wie dieser Teil ihres kulturellen Erbes behandelt wird. Ein leeres Blatt, das soeben beschrieben wird; unter der Last der vorigen dunklen Kapitel.

Notes

  • 1
    Bénédicte Savoy beendet ihre Antrittsrede am Collège de France (2017) mit folgenden Worten: “Und wäre ich hier alleine und wäre der Anlass zu dieser Vorlesung nicht so feierlich und würde ich fürchten, ihnen wunderlich vorzukommen, dann würde ich mich zu meinen drei Freundinnen [drei mitgebrachte, ihren Heimatländern entwendete kunsthandwerkliche Figuren] hier beugen und sie […] vorsichtig fragen, was sie von dem Ganzen halten.” Mati Diop wagt dies. Aus: Savoy, Die Provenienz der Kultur, Berlin 2018, S. 59.
  • 2
    Carl Einstein, Das Berliner Völkerkunde-Museum. Anläßlich der Neuordnung, in: Der Querschnitt (1926), S. 590.
  • 3
    Savoy, Bénédicte: Die Provenienz der Kultur, Berlin 2018, S. 8.
  • 4
    Ebd., S. 9.
  • 5
    Fanon, Frantz (1967): Black Skin, White Masks, New York, S. 150.