Oasis of Now
Die immer selben häuslichen Tätigkeiten in immer neuen, sich gleichenden Räumen, reihen sich in Oasis of Now, dem Spielfilmdebüt von Chia Chee Sum, pausenlos aneinander. Hanh ist aus Vietnam ausgewandert und putzt als Haushaltshilfe in Kuala Lumpur verschiedene Apartments in einem von migrantischen Familien bewohnten Gebäude. Wie genau die Protagonistin in die Vielzahl dieser Heime und familiären Kontexte eingebunden ist, bleibt unklar. Kein Zimmer gibt sich deutlich als das ihre zu erkennen. Vielmehr macht sie sich Übergangsorte wie die Treppe und den Balkonflur zu eigen, in denen sie zwischen aufgezwungenen Überstunden auch mal zur Ruhe kommt, sich vor militärischen Razzien versteckt oder ins Tagträumen flüchtet. Immer wieder Hände, die, nah beieinander, auf Betonstufen ruhen, mit Kieselsteinen spielen, aber sich nicht berühren.
Obwohl Hanh meist stetig in Bewegung ist, führt sie alles mit tiefer Ruhe und Anmut aus, was ihr eine nahezu heilige Aura verleiht. Sie findet sich in einer Reihe von Situationen und Konstellationen wieder, in denen ihre Mutterschaft angedeutet, suggeriert und hinterfragt wird. Ihr klares, stolz leidendes und teils seelig entrücktes Gesicht verweist lose auf den Madonnen-Topos – der Film evoziert diesen, mit seiner Sanftmut, und kämpft gleichzeitig latent dagegen an. Hanh (feinsinnig verkörpert von Laiendarstellerin Ta Thi Diu) ist immer dabei, sich zu entziehen, zögernd, aber selbstbewusst zwischen drinnen und draußen stehenzubleiben. Ihr Dasein zwischen den Türen ist rätselhaft. Die Treppe – der Nicht- und Transitort im Kleinen schlechthin – wird paradoxerweise zum wiederkehrenden, temporären Ruhepol und Herberge für die auf zunächst unerklärliche Weise heimlichen Treffen mit ihrer Tochter, die zaghaft-unbeholfenen, wortlosen Annäherungsversuchen gleichen und von plötzlichen Versteckspielen, einem trotzigen Entziehen vonseiten der Tochter, begleitet werden.
Es gibt keinen Platz für die alleinerziehende, illegal eingewanderte Mutter; ähnlich wie in Agnès Vardas Documenteur (1981) ist sie die ewige Außenseiterin. Diese Ähnlichkeit bleibt nicht nur im Inhaltlichen, sondern zeigt sich besonders auch in einem direkten, aber komplexen Entsprechungsverhältnis von Autobiografie und Fiktion. Chee Sum bezeichnet seinen filmischen Ansatz im Interview mit Barbara Wurm als nicht wirklich autobiographisch, betont aber auch, dass er keinen Film machen könne, den er nicht so auch erlebt habe. Varda antwortet in einem Gespräch mit Françoise Wera (1985) auf die Frage hin, ob Documenteur autobiographisch sei, dass das zugleich zu und nicht zutreffe. Alle ihre Filme seien autobiographisch1 Jefferson Kline, T.: Agnès Varda. Interviews, Jackson 2014, S. 119.. An anderer Stelle (1982) beschreibt Varda ihren autofiktiven Ansatz als “mentir-vraie” nach Louis Aragon. “As for Documenteur there was all this “truthful lying” in the voices, faces, and bodies.2Ebd., S. 116.” Genau dieses wahre Lügen ist in den Stimmen, Gesichtern und Körpern in Oasis of Now zu sehen, nochmals abstrahiert durch die ständige Ungewissheit auf der inhaltlichen Ebene, die die Frage nach der Wahrheit aufgreift. Nach Aragon werden die Realisten der Zukunft zunehmend lügen müssen, um die Wahrheit zu sagen3 Aragon, Louis: Le mentir-vraie, Paris 1980, S. 24. . Das Paradoxon des “mentir-vraie” führt in Oasis of Now zu einer tieferen Wahrheit. Persönliche Erfahrungen von Fremdsein und vertraute Orte des Regisseurs vermengen sich mit jenen der Hauptdarstellerinnen; im Gebäudekomplex, der im Zentrum des Films steht, haben Chee Sum und Thi Diu einmal gelebt, Chee Sums Stiefgroßmutter lebt dort immer noch. Regisseur und Darstellerin teilen darüber hinaus die Erfahrung einer chinesischen und vietnamesischen Minderheit in Malaysia. Trotzdem ist der Film, Serge Doubrovskys Definition des Autofiktiven zufolge, nicht dezidiert autofiktiv, denn es handelt sich nicht um eine „Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten4 Doubrovsky, Serge: Nah am Text. In: Kultur & Gespenster, Nr. 7, 2008, S. 123.“, sondern um eine Fiktion “voller Emotionen […], die sehr stark autobiographisch sind.5 Jefferson Kline, T.: Agnès Varda. Interviews, Jackson 2014, S. 119 . ”. Keine Autofiktion der Ereignisse, sondern eine Autofiktion der Gefühle.
Bei der Arbeit wird Hanh sexuell belästigt. Ihr Arbeitgeber, der ihr zuvor geholfen hat, bei einer Razzia zu entkommen, zwingt sie dazu, sich vor ihm auszuziehen. Doch formal kommt es nicht zu einer kompletten Viktimisierung, denn nur sie ist dabei im Bild und somit Subjekt, das zurückblickt; seine Stimme kommt nur aus dem Off. Dabei schaut sie flüchtig, aber bestimmt und eisern in die Kamera – ein klarer Vorwurf an die Mittäterschaft der Zuschauenden durch Voyeurismus, der in Millisekunden bewusst macht, wer letztlich wirklich schaut und profitiert, wenn der fiktive Täter fiktiv, aber das reale Publikum real ist. Mit ihrem Rücken enthüllt sich in diesem Moment auch die volle Tragweite einer rechtlosen Nichtexistenz, die durch den Status der migrantischen Illegitimität bedingt ist; eine Situation, in der ihre Unsichtbarkeit ausgenutzt wird, wird zu einem Moment des Sichtbar-Werdens. Ein Zeichen für ein durchdachtes formales Programm.
Chee Sum entwickelt mit seinem Kameramann Jimmy Gimferrer – bekannt für seine Zusammenarbeit mit Albert Serra – vor allem eine Bildsprache des Getrenntseins und der Distanz; wie auch Varda mit Documenteur. In den Kompositionen der Einstellungen wird Hanh oft halb von Türrahmen, Zimmerwänden oder durch das visuelle Off verdeckt, sodass nicht ihr ganzer Körper, aber ihre innere Zerrissenheit sichtbar ist. Einmal wird sie von einem älteren Mann zum Essen mit der Familie eingeladen – sie wird reingebeten, aber bleibt vor der Türschwelle stehen, blickt zurückhaltend und neugierig hinein und beobachtet, wie man Fremdes und Unerreichbares – vielleicht auch Ungewolltes – beobachtet. Sie bekommt einen Teller gereicht und isst stumm vor der offenen Tür, während die Familie im Wohnraum beisammen sitzt und sich vertraut unterhält. Später blickt sie, auf der Straße stehend, nochmals in das Fenster der Familie hinein6Eine Szene, deren spezifische symbolische Verwandtschaft auch in Vardas Documenteur zu finden ist. Emilie, die alleinstehende, frisch getrennte Mutter, die aus diesen Gründen keine Wohnung finden kann und von Außen durch Fenster und sich schließende Türen in ein warm beleuchtetes, von Paaren und Familien gefülltes Inneres blickt; in trauriger Distanz.. Über den ganzen Film hinweg bleibt sie die – im direkten und übertragenen Sinne – Außenstehende. Als sie sich am Ende in das Heim einer anderen Frau schleicht, der Adoptivmutter ihrer Tochter, nahezu verstohlen, wie ein scheues, seltenes Tier, das ein Näherkommen nur zögerlich wagt, wird diese Position tragisch potenziert.
Jemand anders hat ihre Mutterrolle eingenommen und im Zuhause ihrer Tochter sitzt sie nun wie ein Fremdkörper, der in den Augen letzterer eigentlich gar nicht existiert. Denn diese ist vertieft in ihr Spiel und antwortet nicht. Als Hanh die Abweisung nicht mehr erträgt, packt sie wütend zwei Rucksäcke für sie, um mit ihr durchzubrennen. Ein verzweifelter Versuch, sich aus der Unsichtbarkeit zu befreien. Kurz darauf sitzen beide im Flur und begreifen die Ausweglosigkeit ihrer Situation – eine gemeinsame Zukunft ist finanziell unmöglich. Die Tochter sucht zaghaft Hanhs Nähe, berührt Hände und Knie, als wolle sie an einen in Trauer erstarrten Körper andocken, dessen Geist in die Ferne abgleitet. Beide schauen stoisch aus der offenen Tür in den Garten, die Gesichter abgewandt. Ihre Emotionen bleiben dem Blick der Zuschauenden verborgen und so nur ihrem eigenen geschützten, zweisamen Raum vorbehalten. Ihre Körperhaltungen sprechen nonverbale Worte. Naturgeräusche von einem unerreichbaren Draußen schwellen kurz und versöhnlich an, dann verstummt der Ton ganz. Auch ihm hat es die Sprache verschlagen.
Hanhs ambivalente Existenzerfahrung zwischen Präsenz und Absenz findet als Zustand seine Entsprechung im Zusammenspiel von Ton7 Tontechnik von Chor Guan Ng. und Bild. Stimmen kommen meist aus dem Off, Dialoge sind zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem diffus ausgestreckt, stehen haltlos und verloren im Raum. Hanh und ihre Tochter sind nie im selben Bild, wenn sie miteinander sprechen. Ein Symbol der familiären Entfremdung und der inneren Zerrissenheit. Schon vorher wurde Hanhs Kopf durch die Cadrage regelrecht abgeschnitten; bei einem Besuch, der in eine schmerzvolle Desillusionierung führt, die endgültig Wille und Istzustand trennt. Eine formale Brutalität, die eine inhaltliche und lebensreale Brutalität verbildlicht – ihre physische Ohnmacht. Ein erschöpfter, von seinen Sehnsüchten entfremdeter Körper, gefangen in seiner Situation, seiner migrantischen Anonymität und Abhängigkeit. So entzweit verhalten sich auch Bild und Ton; manchmal bleibt der Sound nah, wo die Protagonistin in der Ferne der Totale unnahbar bleibt. Oasis of Now wohnt eine surreale Ambivalenz von Nähe und Distanz inne, die Familienverhältnisse oft prägt; ein verwirrendes Amalgam zwischen Zuneigung und Befremden. So oszilliert auch die Beziehung von Mutter und Tochter im Film eigenwillig zwischen diesen beiden Polen.
Ein zärtliches Versteckspiel der Sichtbarkeit, das aber nur bedingt spielerisch und selbstgewählt ist. Die verzauberte Ungewissheit birgt eine bedrohliche Unsicherheit in sich. Ein Film voller Sinnlichkeit, der trotz einer gewissen verborgenen Härte seine Unschuld behält und im Kaurismäkischen Sinne seiner Protagonistin stets proletarische Würde verleiht. Oasis of Now spricht sanft vom Schmerz der Zerbrechlichkeit von wahrer Nähe. Darüber hinaus wird ein formales Programm entwickelt, das in jeder Einstellung die Position des Marginalen als einen nahezu metaphysischen Zustand still, stolz und schön beweint und feiert. Das Bewusstsein über die Schönheit des puren Daseins im Moment steht klar im Gesicht und den Gesten der Hauptdarstellerin geschrieben. Das Tagträumen und plötzliche Nähe erweisen sich als kleine Oasen, als insularer Schutzraum, in dem der innehaltende Moment, als wiederkehrende Konstante, Trost spendet. Ein Spiel mit stummen Steinen ist verbindender als das Verbale und bildet – wie in There is a Stone (2023) von Tatsunari Ota – das zentrale, fragile Medium einer unschuldigen zwischenmenschlichen Annäherung, die dann doch ihre tragische Erfüllung in einem nüchternen Ende findet.
Oasis of Now hinterlässt einen Zustand der Verwirrung über den Wahrheitsgehalt des Geschehenen. Dieser ist gewollt, um der Subtilität und der widersprüchlichen Natur von Gefühlen treu zu bleiben. Chia Chee Sum wertet sie in ihrer Relevanz auf der Erzählebene höher als Fakten und Entertainmentmaxime. Die Tendenz zur Auslassung ist hier keine prätentiöse Geste, die beeindrucken will, sondern verhält sich wie ein zurückhaltender Mensch, der aus gutem Grund dem Wort und seinem Potenzial, Wahrheit komplex zu ergreifen, misstraut. Chee Sum stellt sich dabei der Gefahr, das Publikum in Bedeutungsoffenheit zu verlieren, um sich auf den Spuren des Authentischen zu bewegen, die gerade in Leerstellen und dem Rätselhaften verborgen liegen. Eine Autofiktion der widersprüchlichen Emotionen, die, zwischen Vertrautem und Fremdem gelegen, für ihre Artikulierung eigentlich zu diffus sind, hier aber auf wundersame Weise Bild und Ton werden. Das macht diesen Film so schwer greifbar wie die ständig weichende Form der Gefühle selbst.
Notes
- 1Jefferson Kline, T.: Agnès Varda. Interviews, Jackson 2014, S. 119.
- 2Ebd., S. 116.
- 3Aragon, Louis: Le mentir-vraie, Paris 1980, S. 24.
- 4Doubrovsky, Serge: Nah am Text. In: Kultur & Gespenster, Nr. 7, 2008, S. 123.
- 5Jefferson Kline, T.: Agnès Varda. Interviews, Jackson 2014, S. 119 .
- 6Eine Szene, deren spezifische symbolische Verwandtschaft auch in Vardas Documenteur zu finden ist. Emilie, die alleinstehende, frisch getrennte Mutter, die aus diesen Gründen keine Wohnung finden kann und von Außen durch Fenster und sich schließende Türen in ein warm beleuchtetes, von Paaren und Familien gefülltes Inneres blickt; in trauriger Distanz.
- 7Tontechnik von Chor Guan Ng.