Bis ans Ende der Nacht

Repräsentation zu fördern ist heutzutage verhältnismäßig einfach. In den sozialen Medien wird vom Publikum Kritik am vermeintlichen Realismus in Film und Fernsehen geübt, der von allen praktiziert werden kann. Insofern er*sie Internetzugang hat, kann er*sie die Wiedererkennung der eigenen Identität in den großen pop-kulturellen Artefakten verlangen. In seiner gehobenen Form geht der Wunsch ja auch über jenes grundsätzliche Bedürfnis hinaus; was zählt ist nicht, dass man sich in der Geschichte wiederfindet —Tokenismus ist schon längst abgelaufen, spätestens seit jede zweite Serie eine schwule Person bei der Besetzung inkludiert hat  — sondern, dass die narrativen Mechanismen, eine gute, nay, qualitativ hochwertige Geschichte erzählen. Tausende Folge CSI mit LGBTQI+ Menschen als Opfer eines zufälligen Hassverbrechens zählen wenig gegen die Geschichte eines Queer-Erwachens im muslimischen London-Kontext in Nida Manzoor’s We Are Lady Parts (2021).

Komplexität verweigert meistens plumpe Deskription; die Reduktion auf das Wesentliche einer Identität schafft Wiederverwendung, eine einfach zu beseitigende Eigenschaft. Der minoritäre Schrei richtet sich aber auf die zunehmende Komplexität der Erzählungen. Wie oben, so unten. Cis, weiße, und durchaus normative Beziehungvorstellungen genießen im pop-kulturellen Bereich das Privileg, in jeder einzigen Kleinigkeit vorkommen zu dürfen. Menschlichkeit hat Hautfarbe, der Liebeskummer eine Form.

Während sich der außen stattfindende Gegenstoß auf diese Förderungen auf Machtverhältnissen-Versteckerei stützt —etwa das Argument, es sei Teil des künstlerischen Arsenals der Schauspielerei, sich als jemand anderes vorzugeben — beschäftigt sich die innere Kritik mit der Qualität der Erzählungen, welche sich den Leben der am Rand überlebenden Menschen widmen. Dass Kritik an Hollywood sich durch gegen-hegemoniales Gefühl, einen praktischen, denn armen und automatischen, Kulturpessimismus, am Leben halten lässt, heißt nicht, dass sich Arthousekino automatisch als besseres, denn “künstlerisches” erweist. Das Quadrat, bestehend aus Pedro Almodovar, Xavier Dolan, Sebastián Lelio und Céline Sciamma, um einige der bekanntesten Beispiele zu nennen, weist ja auf sehr unterschiedliche Ansätze und Reaktionen hin. 

Bis ans Ende der Nacht, der neueste Film des Berliner Schülers und Revolver-Redakteurs Christoph Hochhäusler, liefert den deutschen Beitrag zu der Diskussion.Im Zentrum des Ganzen stehen Leni (Thea Ehre) und Robert (Timocin Ziegler), sie, eine transfrau, und er, schwul, müssen “als ob” spielen, indem deren Paarsein den Schlüssel im großen Drogengeschäft eines ehemaligen DJs (Michael Sideris) bedeutet. Als wir Leni kennenlernen, kommt sie gerade aus dem Gefängnis in ihre schicke neue Wohnung, die zusammen mit einem schlecht gelaunten Boyfriend kommt. Von Anfang an ist die Metaphorik höchst geladen. “Als ob” spielen ist, was sie als Paar für das Ziel von Lenis Freiheit machen; “als ob” spielen ist auch das, was Robert Leni aus eigener sexueller Frustration heraus vorwirft. In diesem Spiegelkabinett wagen Hochhäusler und Drehbuchautor Florian Plumeyer den Versuch, eine Wahrheit zu finden, keine zufällige, sondern eine, welche Leni subjektiviert, sie zu tatsächlicher Entität macht.

Dass sich die beiden Erzählrichtungen widerspiegeln ist weder notwendig noch hinreichend, um zu dieser Wahrheit zu gelingen, diese Technik aber hilft, wenn jene Wahrheit so zart ist, dass Klarheit und Sparsamkeit die besseren Mittel sind als Wiederholungen und Worthülsen. Seht her: ein Mann, der nicht aufhören kann zu reden und seine Position als la personne principale dadurch zu bekräftigen. Leni leistet Gegenwehr, jedoch ist sie eine Fremde im Malestream, femme fatale durch Vorgabe, hilflos, bis sie sich dafür entschied, etwas für sich selbst zu machen. Inzwischen ist sie ein reines Plot-Instrument geworden, deren Transsein wenig bedeutet außerhalb der Wichtigkeit für den nicht Mund haltenden Bobby, dessen psychologischer Aufbau weniger einem psychoanalytischen Profil als vielmehr einem pop-psychologischen Buch ähnelt. Die liebevoll dunkle Bildgestaltung zeichnet die Schatten in den Gesichtern der Figuren, wobei die geradlinige Dramaturgie des Films mögliche Geheimnisse entkräftet, sie ja so konkret wie eine Gerichtsakte darstellt.

Die oben genannte Diskussion der medialen Repräsentation tritt endlich auf. Diese Kritik bewegt sich im Spannungsfeld dessen, inwiefern Identität eine Rolle in der Hauptrichtung der Erzählung spielen sollte und inwiefern eine Person halt nur als Teil des Plots dargestellt werden sollte. Wie das gewichtet wird, ist keine exakte Wissenschaft. Die erste Option riskiert ein überspitztes Thematisieren, ergo cliche.  Die zweite Option, die totale Anonymität des hegemonischen Blicks, gibt vor, dass alle nur Menschen sind und deswegen Teil der Erzählung, wie eh alle anderen, es wird  eine fiktive Gleichberechtigung kreiert. Die in Bis ans Ende der Nacht dargestellte glückliche Mitte, in der Lenis Transsein manchmal in der Psyche von Robert thematisiert wird und sie manchmal als anonymer Teil des Ganzen betrachtet wird, lässt die Geschichte im Laufe des Films politisch zahnlos werden und macht wiederum die kriminelle Geschichte einfallslos, konsequenzlos. Teil Heat Nachahmung und Teil Primetime-Police-Procedural.

Eine andere, radikalere Strömung der Minoritären, die sich an andere Mittel wendet, existiert jedoch. Diese kritisiert hart das Gelaber um Plot, da sie diesen zum Instrument der normativen Kräfte (etwa das Patriarchat) betrachtet, jedoch werfen sie die erzählerische Tradition aber nicht weg, wie es oft heißt, sondern nimmt sie und deren Wirkung durchaus ernst, weswegen andere Konfigurationen doch geschaffen werden sollten. Durchschnittliche Erzählstrukturen werden dann neu konfiguriert durch ihre Form, die das Transgressive an dem Inhalt nicht verliert, sondern betont. “Denn die Werkzeuge des Meisters werden niemals das Haus des Meisters abreißen” hieß es bei Audre Lorde1Lorde, A. (2003). The master’s tools will never dismantle the master’s house. Feminist postcolonial theory: A reader, 25, 27. und jedoch: insofern, als das Kino die Vermittlung von Haltungen ermöglicht, könnte revolutionärer Inhalt hergestellt werden, oft mit den Werkzeugen des tollpatschigen großen Meisters. Eine andere Grammatik, Sätze, die im Zick und nicht im Zack verlaufen, und manchmal auch gar nicht.

Nicht, dass Bis ans Ende der Nacht zu einer Entwertung des kulturellen Bilds des Transseins beiträgt, doch in seinem hartnäckigen Plot-Zentrismus spielt er mit Leben, als ob sie Themen wären, und weil diese nur erwähnt, nicht wirklich ausgerrissen werden können, werden sie zu Anekdoten. Und auch nicht so, als ob es sich um Leben handelte, die, wie die radikalsten Strömungen der Trans-Politik meinen, zu einem radikalen politischen Wandel fähig wären, der das normative Verständnis von Geschlecht oder, in diesem Sinne, von Erzählung neu konfigurieren könnte. Leni ist nicht da, um das vorher existierende System zu beseitigen. Sie nimmt den gleichen Platz wie jede beliebige Figur ein, die den Plot vorantreibt. Die sehr geschichtsträchtige feministische Geste, mit der der Film endet, sollte das Gesehene resignifizieren, doch die konventionelle Grammatik des Films widerspricht ihr. Die Geste ist bestenfalls hohl, schlimmstenfalls zynisch.

Der Philosoph Olúfẹ́mi O. Táíwò schreibt in seinem Buch Elite Capture (2022)2Táíwò, O. O. (2022). Elite capture: How the powerful took over identity politics (and everything else). Haymarket Books., das eigentliche Problem der Identitätspolitik sei weder, dass sie die Spaltung der Arbeiterklasse (ein üblicher Streitpunkt in diesen Debatten: Identitätspolitik versus traditionelle marxistische Politik) in kleineren Gruppen bewirkt, noch, dass sie der Herrschaft der Oberschicht dient, sondern beides, jedoch konkreter: dass sie sich von Interessen leiten ließ, die darauf abzielen, Menschen auseinanderzuhalten, indem sie die Unterschiede hervorheben, statt die politische Ziele und Gemeinsamkeit zu betonen. Der politische Kern der Identitätspolitik wird weggelassen; Bündnisse ausgeschlossen tout court.  In Deutschland spricht man marxistischer in dem von Eleonora Roldán Mendívil & Bafta Sarbo herausgegebenen Band von der Diversität der Ausbeutung3Eleonora Roldán Mendívil & Bafta Sarbo (Hrsg.) Die Diversität der Ausbeutung, Karl Dietz Verlag, 2023.. Zurecht: betont wird Inhalt ohne Verpflichtung und Kontinuität der Form. 

Das Potential der Minorität, eine der Hauptlehre von den Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari, in der eine majoritäre Sprache angeeignet wird und dadurch etwas grundsätzlich anders ausgedrückt werden könnte, bewirkt eine Steigerung der Adjektivierung, bei der sich das Partikulare an das „Universelle“ anheftet, aber keinen wirklichen materiellen Erwerb erfährt. Ein amerikanischer Präsident wirft ungeachtet spezifischerer Merkmale immer noch Bomben, baut immer noch Mauern, erzählt die gleichen schlechten Witze. Status-Quo-Arschkriecherei bietet Identität als das neue Normal, sie mildert die Konturen des politischen Charakters ab, entpolitisiert. Zahnlos und unfrei.

Damit sich die Identität nicht einfach wegatmen lässt, richten radikale Strömungen den Blick auf die Form. Paul B. Preciado, eine der Hauptfiguren des Queeren-Theoretisierens der Gegenwart, folgt Godard aus seiner ganz eigenen Weise, wenn er anmerkt, Queere-Geschichten ohne eine  Queere-Ästhetik, die das filmische Vorgehen umformulieren (wie ihr eure Spielzeuge verwendet gefällt mir nicht), seien von vornherein gescheitert. Spezifischer: Identitätserzählungen über das Transsein sind voller Leid, da Trans-Menschen immer als tragische Figuren gestaltet werden. Diese Geschichten sind nicht nur nach dem Muster der Heldenreise konstruiert, sondern auch nach normativen Maßstäben, die das Leiden als eine große, zwingende Macht ansehen. Solche Rahmungen hinter sich zu lassen, sollte eine Pflicht sein: Lasst uns tanzen.

Das Autorenkino befreit sich nicht von normativen Rahmungen, indem es sich mit kultivierten Gesten zufrieden gibt. Jede*r, der*die sich mit den letzten Filmen der Dardenne Brüder, in denen  sie sich mit ihrem christlichen Moral dem Islamismus widmen, befassen hat, kennt die Fälle. Hochhäusler spielt seinerseits jeden Hit. Die schattenhafte, konzentrierte Kameraführung, die Leni in einem klaustrophobischen Frankfurt gefangen hält, die Kamera, die elf Mal von links nach rechts schwenkt, um die Verschlechterung einer Beziehung in Rekordzeit zu zeigen, was man aus Unter dir die Stadt (2010) kennt. Das, was fehlt, sind nicht stilistische Gesten, sondern die vollständige, gnadenlose Neuformulierung der Form, die den Stil nicht ausschließlich als dekorativ, als ein weiteres Accessoire in der Aneignung nicht-normativer Körper begreift. Queere-Teile für eine nicht-queere Erzählung; Majoritäre Sätze geschrieben mit minoritären Adjektiven.

Und wo soll die politische Stoßrichtung der Trans-Politik Platz finden, wenn nicht im Autorenkino?  Das Medium an sich in Frage zu stellen, genau an dem historischen Moment, wo dieses behauptet, alle mögliche Instrumente zu haben, um jede Geschichte erzählen zu können, ist bekanntlich das Terrain des Auteurs, eine Fiktion, jedoch eine sehr wirkungsvolle. Bis ans Ende der Nacht zeigt, wie sich Politik und Geschichten durchaus harmlos gestalten lassen. Am Ende bekommt Leni ihre gewünschte Freiheit, sieht das Arschloch am Boden, sagt ihre letzte Zeile und guckt in die Kamera. Die so erreichte Repräsentation ist bestenfalls ein politischer Trost, schlimmstenfalls ein weiterer Beitrag zur Konsolidierung einer Aneignung, die, so subtil sie auch wirkt, Trans-Menschen nur zu einem weiteren Instrument im Werkzeug der Erzählung macht, deren politisches Potenzial durch eine stumpfe Waffe zunichte gemacht wird.

Notes

  • 1
    Lorde, A. (2003). The master’s tools will never dismantle the master’s house. Feminist postcolonial theory: A reader, 25, 27.
  • 2
    Táíwò, O. O. (2022). Elite capture: How the powerful took over identity politics (and everything else). Haymarket Books.
  • 3
    Eleonora Roldán Mendívil & Bafta Sarbo (Hrsg.) Die Diversität der Ausbeutung, Karl Dietz Verlag, 2023.