Dormir de olhos abertos
Die Diaspora, eine Menschengruppe, die sich über die Welt verteilt hat, ist für Theoretiker*innen wie Homi Bhabha der Anlass, über die Möglichkeiten der Subjektivität des Anderen nachzudenken. Die Diaspora tritt in einen anderen Raum ein, sie ist eine nomadische Konfiguration, oft mit der Migration in die entwickelten Länder verbunden, und dadurch entstehen Probleme und auch Möglichkeiten für die angekommenen Menschen. Für Bhabha ist es wichtig über einen dritten Raum zu sprechen, einen Zwischenraum voller Ambivalenz, wo die Diaspora sich mit anderen Kulturen auseinandersetzen kann1It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew. (p. 37) in Bhabha, H. K. (2012). The location of culture. routledge., eine Verhandlung, die immer mit Ambivalenz verbunden ist. Die Gründe dafür sind bekannt. Der alltägliche Rassismus, sozio-ökonomische Probleme, die Interaktionen bestimmen, sind schon einige. Der dritte Raum wird zum Schwebezustand der Menschen, die ihre Länder sowohl für die Chance der Selbstentfaltung als auch für die ökonomische Verwirklichung verlassen haben. Was mit ihrer Sprache, ihrem Körper und ihrer Psyche geschieht, kann von außen trivial als Statistik wahrgenommen werden, bis sich die Gesellschaft, in der Migrant*innen angekommen sind, verändert. Dann kommen die Diagnosen. Das Denken von innen, d.h. von und mit den Migrant*innen, wird daher relevanter. Denn das innere Erleben lässt sich nicht in grobe Diagnosen fassen. Es passiert etwas mit der eigenen Sprache, wenn man „du“ statt „tú“ oder „vos“ schreibt. Jedoch geschieht auch mit dem Körper etwas.
Die höflichen, oft eindringlichen, aber nie aggressiven Fragen, die „Dormir de olhos abertos“, der Film von Nele Wohlatz, in den Raum wirft, beginnen, bevor ein Bild vor den Augen erscheint. „Dormir de olhos abertos“ oder „Sleep with Eyes Open“ ist die Beschreibung eines Zustands, könnte aber auch eine Ermutigung für die lesende Person sein, sich der Tätigkeit des Tagträumens zuzuwenden. Die Untertitel weisen den Weg: „Portugiesische Untertitel sind gelb, alle anderen Sprachen weiß.“ Die Welt wird in Sprachen begriffen, deren Sätze oft nicht verstanden werden können, weil die grundsätzliche Grammatik fehlt. Die Körper von „Dormir“ lassen sich als bewegliche Elemente verstehen, doch in ihrem Bedürfnis nach einem festen Ort sind sie ruhige, die Welt beobachtende Figuren, deren Sinn für die eigene Verortung das Leben bestimmt. Kai ist freundlos in Brasilien angekommen, sie trifft Menschen, versucht mit ihnen ins Gespräch zu kommen, knüpft Verbindungen und kommentiert furchtlos über die Arbeit anderer Menschen. Die Figur, mit der sie spricht und die sie nur von hinten sieht, ist ein optimistischer Übersetzer aus Argentinien. Über den Sinn des Übersetzens sagt er auf Englisch: „Wir müssen es versuchen, auch wenn wir scheitern„. „Ich will dich nicht angreifen, aber meiner Meinung nach können sich die Leute selbst in ihrer eigenen Sprache kaum verstehen„, sagt Kai. „Ich habe ein Abendessen. Es war schön, dich kennenzulernen.“ Der Übersetzer verlässt Kai, die immer noch Caipirinha sitzend trinkt, und das Bild zugleich.
Geduldig beobachtete und doch flüchtige Momente prägen die filmische Erzählung von Wohlatz‘ Welt. Die filmische Architektur erfordert eine Struktur, in der der Titel des Films erst nach dreißig Minuten auftaucht, weil die Beziehung zwischen zwei Ebenen erstmal grundlegend vorbereitet werden soll. Die Figuration des Verschwindens und des Zusammenkommens, die dadurch entsteht, erkennt das diasporische Gefühl an; es ist die Ambivalenz des Lebens im Zwischenraum, da und doch nicht. Was Kai und Xiao Xin, deren in Postkarten geschriebenes Buch Kai gefunden hat, verbindet, wird durch Worte, gemeinsame Bekanntschaften und die prägnante, durch aquatischen Sound begleitete Decoupage katalysiert. Die beiden Figuren spiegeln sich nicht wider, sie ergänzen sich. Das “Déjà-vu“ eröffnet neue Möglichkeiten, aber für wen? Wenn Kai an der gleichen Stelle sitzt, an der Xiao Xins Körper fast verschwindet, wird sie von derselben Person wie ihr figuratives Gegenstück gesehen, aber in mehrfacher Hinsicht falsch eingeschätzt. Die Erfahrungen der Migrant*innen mögen sich ähneln, die Figuren mögen sich reimen, und doch gibt es keine universelle Erfahrung, die sich als Standard durchsetzt. Wohlatz‘ Film setzt die Menschen in Beziehung zueinander und begreift ihre Lebensumstände als delikate Konfigurationen, die durch äußere Umstände bedingt sind. Nur bestimmte Dinge werden mit besonderen Akzenten wiederholt. Das Hotelzimmer, das einsame Zimmer, der volle Raum, die riesigen Gebäude. Der Eindruck des Möglichen trügt, die Wirklichkeit repetiert sich endlos.
Das Bindeglied zu dem Land, aus dem die Mehrheit der Figuren stammt, ist Fu Ang, den die beiden Erzählebenen gemeinsam haben. Seine Bemerkungen erlauben es den anderen Figuren nicht, ihre Beziehungen zu Taiwan zu ignorieren. Die Sprache mag dieselbe sein, aber die Einstellung zur Welt ist eine andere. Vom Unschuldigen auf einer Ebene wird er zum Enttäuschten auf der anderen. Die sogenannte Integration erweist sich als schwierig; er wird auf seine Arbeit reduziert, bei der er auch scheitert. Wohlatz‘ Blick weigert sich, ihn zu erniedrigen. Seine Geschichte eines beschissenen Tages wird gehört, vielleicht nicht von anderen, aber doch vom Film. Im Gegensatz zu Xiao Xin, deren Reise sie als Teil einer nomadischen Diaspora kennzeichnet, ist Fu Ang jemand, der bleibt. Dennoch sind die beiden in einer globalisierten Welt deterritorialisiert, ihre geistige und ländliche Verortung ist woanders und das Sich-Befinden scheint immer unerreichbar zu sein. Xiao Xin hinterlässt Fu Ang die Postkarten, auf die ihr Buch geschrieben wurde; aber auf Spanisch, einer Sprache, die Xiao Xin Angst hatte zu verlernen.
Kai wird paradoxerweise zur Übersetzerin, Vermittlerin des auf Papier Geschriebenen. Die Bilder des Alltags Xiao Xins tauchen auf der zweiten Ebene auf. Sie wohnt in einem Übersetzungskontext, geschaffen aufgrund der Beobachtung, die sie vollzieht. Die Sprache, die man praktiziert, vermischt sich mit der Sprache, die man aufgrund des Ortes sprechen muss, und spiegelt sich in der Sprache wider, die man tatsächlich benutzt. Xiao Xin beschreibt die Gefühle und Ereignisse des Lebens so gut wie sie kann. Arbeiten, fischen, helfen, spielen, hören und sich bewegen gehören dazu. Hauptsächlich wird gearbeitet, die migrantische Aktivität tout court, weswegen die Figur des Arbeiters Xiao Xin begleitet. Ihre Tante und ihr Onkel betreiben ein Geschäft und holen Leute aus Taiwan, um zu helfen, egal ob sie Papiere haben oder nicht. Der Wanderarbeiter in Lateinamerika ist ein unbürokratischer Import, der billige Arbeitskräfte bedeutet. Probleme intensivieren sich, da das Zugehörigkeitsgefühl nicht erreicht werden kann, dennoch bleiben sie nur latent. Als Fu Ang mit Xiao Xin, Leo und Yang Yong, den beiden letzten Arbeitern, in einem Zimmer abhängt, kommt es zwischen Leo und Yang Yong zu einem Streit, der von Rassismus und Ressentiments geprägt ist.
Fu Ang hält sie auf, wählt die friedlichere Option und versucht zu tanzen. Seine blattartigen Bewegungen erzeugen Leichtigkeit und zerstören die potenzielle Gewalt, bevor sie beginnt. Die Positionierung der Körper im profilmischen Raum erzeugt Verständnis für deren Prädikament und keine Aufregung wegen der möglichen Schlägerei. Die respektvolle Distanz sowohl zu den Arbeitern als auch zu Xiao Xin verhandelt geschickt eine mögliche Überidentifikation mit der Figur und lässt sie atmen, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Dieser Ansatz wiederum nimmt die Sorgen der Figuren ernst. Die Melancholie ausstrahlenden Bilder vergessen nie die Komik der Situation, das Absurde, auch zu betonen. Es regnet Geld und Wassermelonen aus der Wohnung. Was tun? Solch anerkennende figurative Distanz, die einen Moment Zeit erlaubt, schafft Kompression, die den Sound gekonnt erweitert. Als Xiao Xin mit Fu Ang in der Wohnung ihres Onkels ist, klopft jemand an die Tür, eine Gestalt in Matrosenkleidung erscheint, Sekunden später kommt sie mit einem Doppelgänger zurück, um Xiao Xin und Fu Ang rassistisch zu beleidigen. Wenn die Tür geschlossen ist, ist die Musik durch die Wände zu hören, deren “Drop” beim Öffnen der Tür noch hörbarer wird. Die Lieder sind wie unter Wasser zu hören, ihre aquatische Qualität trägt dazu bei, dass das, was man nicht sehen kann, dennoch da ist, lebendig auf der Klangebene der Phantasie. Die assonanten Situationen entschlüsseln sich sprachlich, finden bildlich ihre Bedingungen und erreichen musikalisch ihre Resonanz. Bei einer späteren Szene wird ein ähnlicher Effekt erreicht. Die Klänge einer aus der Ferne spielenden Band ordnen das Gefühl der Entkopplung mit heftigen Klangwechseln ein, während im Inneren des Ladens die Figuren Perücken tragen, ihre Veränderung bleibt scheinbar an der Oberfläche, aber das Gefühl, den eigenen Platz zu finden, entfaltet sich zum Kern ihrer filmischen Form.
Es gibt Zeichen, die für andere Zeichen stehen, eine Figur, die eine andere Figur widerspiegelt, und die migrantischen Gefühle einer Welt, die sich ständig verschiebt. Zur ersten Ebene zurückkehrend, hat Kai Resonanzen gefunden, die vielleicht nicht viel wert zu sein scheinen, doch durch ihre Erkundung lassen sich die Bücher lesen, der Akt der Übersetzung hat Bedeutung, obwohl die Figuren im diegetischen Raum das Übersetzte noch nicht gehört haben. Es ist gut, es zu versuchen, auch wenn man oft scheitern kann. Die Melancholie von Xiao Xins Buch lebt von der Sehnsucht nach einem Ort, den es wahrscheinlich gar nicht gibt, der sich vielleicht aus den vielen Ländern und Sprachen zusammensetzt, in denen sie gelebt hat und aus Sprachen, die sie vielleicht lernen und verlernen wird. Dennoch wurde es geschrieben, gelesen, und am Wichtigsten, es wurde nacherzählt, miterlebt. Das Wesentliche ist nicht, wo man lebt, sondern wo man verweilt2 In sum, when I say that decoloniality and postcoloniality did not originate in Europe but in the Third World, I am reminded that Aimé Césaire and Frantz Fanon, for instance, were in France where they wrote their influential books. Fanon actually was in Algeria when he wrote The Wretched of the Earth (1961). The point, however, is not where you reside but where you dwell. Césaire and Fanon, both Martinican, dwelled in the history of the Middle Passage, of the plantations, of slavery and of the runaway slaves. (p. xiii) in Mignolo, W. (2011). The darker side of western modernity: Global futures, decolonial options. Duke University Press.. „Dormir“ behandelt die Körper seiner Figuren wie brechende Wellen auf der Suche nach Orten der Begegnung auf Portugiesisch, Spanisch und Taiwanesisch. Die Kontemplation ist ewig, eingefroren in der Zeit. Sie verspricht Schönheit unter einer fremden Sonne, die man vielleicht nie kennen wird.
Notes
- 1It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew. (p. 37) in Bhabha, H. K. (2012). The location of culture. routledge.
- 2In sum, when I say that decoloniality and postcoloniality did not originate in Europe but in the Third World, I am reminded that Aimé Césaire and Frantz Fanon, for instance, were in France where they wrote their influential books. Fanon actually was in Algeria when he wrote The Wretched of the Earth (1961). The point, however, is not where you reside but where you dwell. Césaire and Fanon, both Martinican, dwelled in the history of the Middle Passage, of the plantations, of slavery and of the runaway slaves. (p. xiii) in Mignolo, W. (2011). The darker side of western modernity: Global futures, decolonial options. Duke University Press.