Electric Fields

Zuerst hört man das Zwitschern der Vögel, die Natur im Klangzustand, dann Schritte, eine sich öffnende Tür und schließlich das Ausatmen eines Menschen, der sich durch einen uns unbekannten Raum bewegt. Und plötzlich: Das Bild einer männlichen Figur, die auf liegendes Gegenüber den Blick richtet. Das traurige, grimmige Gesicht deutet auf einen verzweifelten Anlass hin. Die Orientierung der Körper, vertikal und horizontal jeweils, zerbricht die oft in Gesprächen gefundene Reziprozität des Lebenden. In den Vertikalen verweilen die Toten. Die übliche, wenn auch unangenehme Situation, wird durch das Einsetzen von Chopins “Nocturne Op. 55 No. 1” zum übernatürlichen Ereignis, eingefangen in den schwarz-weißen – und das heißt auch: grauen – Tönen von Lisa Gertschs Film. „Electric Fields“ wirft den Episodenfilm als eine Frage auf, mit welcher sich die Figuren auseinandersetzen müssen. Indem sie auf unsichere Umstände reagieren, wird die Möglichkeit des Verstehens wackliger. Es kann nicht alles durchschaut werden.

Mit jedem Druck der Play-Taste kommt die Person bei der ersten Episode ins scheinbare Leben, mit offenen Augen zurück in die Welt. Doch die Figur, sogar wenn in Gestalt eines Menschen, ist eine Schaffung unterschiedlicher Elemente, die in ihrer Verbundenheit einen Zusammenhang kreieren. Das Chopin spielende Radio bringt eine Figur in Bewegung, deren Vergangenheit nur durch die Anwesenheit des Anderen impliziert ist. Verschwindet der Sound, verschwindet das angebliche Menschenwesen der Figur. Ihre Augen und Bewegungen figurieren eine von Geschichte erfüllte Person, doch diese ist schon lange nicht mehr da. Begreift man das Fantastische an der Situation, lässt sich auch die darin enthaltene Möglichkeit erkennen. Und jedoch: der Zusammenhang bricht ab, sobald der Wunsch nach Manipulierbarkeit einsetzt.

Charaktere, die der Magie nicht standhalten vermögen, erleiden das unangenehme Schicksal, sich in Filmen nicht zusammenreißen zu können.. Kino besitzt Plastizität, die Fähigkeit des Manipulierens der Form und Materie, was oft unter vage, negative Manipulation kategorisiert wird. Kontexte, Konflikte, Dialoge, Seitenverhältnisse und Einstellungen platzieren Figuren im Raum und in der Zeit, machen sie zu sicht- und hörbaren Figuren. Modernistisches Kino, oft in Austausch mit dem Konzept von Form, befragt das Bild und den Ton, keine Lösung fordernd. In “Electric Fields”  sind Figuren zu sehen, deren Platz nur anscheinend sicher ist. Ihre Begegnungen mit dem Unbegreiflichen bestimmt ihre Einstellung im doppelten Sinne. Die Figur in der ersten Episode -insgesamt sind sie sechs-, die den Film durchgehend begleitet, ist fast nicht im Bild auf ihrer letzten Erscheinung. Etwas ging verloren, die Melodie ist nicht mehr im Kopf.

Überall sind Objekte zu finden, die etwas ausstrahlen. So wie es in der zweiten Episode auch eine übernatürliche Erscheinung gibt, die schließlich zerstört werden muss, weil sie sich als materiell, jedoch nicht greifbar erweist, gibt es instinktiv verständliche Zustände, die sich schließlich schnell verstehen lassen. Die Figuren gewöhnen sich schnell an sie. Die Fähigkeit zur Intuition, ebenfalls durch die Geschichte bestimmt, löst die Situation manchmal von selbst. In einem Café unterhalten sich zwei Figuren, eine erzählt von dem, was sie geschrieben hat, die andere hört zu und kommentiert gelegentlich. Dann ist die zuhörende Figur plötzlich da, rein in das Geschriebene. Zurück in dieser Erinnerung übernimmt die Figur ihr an Rom gebundenes Leben und ist in der Lage, zuzusehen und nicht nur mit Unverständnis zu reagieren. Ungeheuer werden bekanntlich durch den Schlaf der Vernunft geboren und dennoch wollen anscheinend vernünftige Figuren im Film die Welt mit aller Kraft verstehen, setzen sie sich vor eine unmögliche Glühbirne und, statt den Zustand zu akzeptieren, verschwinden sie ihn. „Eine Wahrheit ist nichts, das in bonbonrosa Geschenkpapier verpackt geliefert wird1 Badiou, A., & Truong, N. (2011). Lob der Liebe: Ein Gespräch mit Nicolas Truong. Passagen-Verlag. S.54” Sie ist einer Situation immanent entstanden und vor diesem Konstituieren nicht vorhanden. Für viele der Figuren in „Electric Fields“ gibt es ein Ereignis, sei es die übernatürliche Natur eines Objekts oder der ebenso fantastische Moment, etwas jenseits des Gewöhnlichen zu spüren, das alles verändert. Die Reaktion darauf kann zu einer formalen Akzeptanz der Situation hinführen. Oder sie können sich selbst zerstören.

Gertsch stellt diese Anomalien im Gewebe der Realität mühelos als Tatsache dar, weshalb ihre Figuren in Situationen geraten, für die sie keine geeigneten Werkzeuge besitzen. Sie bewegen sich überrascht in die neue Welt nach der Offenbarung, in die Natur, in ein Büro, in eine Lobby; ihre Weltanschauung wird geändert, die Subjektposition, mit der sich die Welt einfacher organisieren ließ, besteht nicht mehr. Das ewige Problematisieren lässt sich leicht als Metaphorisieren des Leidens der Welt verstehen, das sich mit dem Verstehen des Neuen schwer tut. Doch die Elemente des Films laufen frei in seinen Welten, die Chance, diese Szenarien mitzugestalten, ist immer vorhanden. Leiden ist nicht immer vorbestimmt. Die Worte der Figuren sprechen jenes Potenzial an, das weit über Traurigkeit hinausgeht, weswegen die Tristesse nicht von oben auferlegt, sondern von den Figuren selbst gewählt wird. Der destruktive schöpferische Geist, der sie zu bestimmten Schicksalen verurteilt, ist nicht von seiner Kraft besessen. Figuren befreien sich von ihren Körpern, Sprachen und von ihrer Liebe, bestehen jedoch in Bild und Ton fort.

Jedoch geschieht zuweilen etwas und man merkt es doch nicht. Dann kommt das Donnern. Die Einstellung, oft geschlossen und fokussiert, eignet sich zur Kompartimentalisierung. Die Strategie, welche einen zunehmend schwierigen Vertragsabschlussprozess einrahmt, vermeidet die versteckte Melancholie des Gegenübers, die sich vor dem Computer offenbart: “Technik ist wirklich nicht meins..” Der Tod, oder doch die Verwandlung, wird zur letzten Entscheidung, sei es wegen des beschleunigten Ablaufs der Zeit, der Einsicht in die Sinnlosigkeit des Ganzen, oder bloß einfach so. Der Film verpflichtet sich, die wechselnde Farbe des Wassers und die Formationen der Vögel am Himmel zu sehen, trotz alledem, was kommen wird. In dieser hartnäckigen Betrachtung taucht die Liebe auf. Nicht (romantisch) wie man will, sondern mit melancholischer, erschöpfter Stimmung. Resigniert. Zwischen zwei Auftritten von Fortuna Ehrenfeld sagt eine männliche Figur, deren Kummer im Gesicht auffällt, “Vielleicht ist die Welt untergegangen, und du bist nur ein Krater und wir haben nichts mitgekriegt.” Seine Stimme und sein Körper gehen verloren; sein Po so nackt wie sein Herz.

Ich liebe dich…zum ficken” sagt die weibliche Figur, deren Kopf schon woanders ist. Der Körper folgt ihm nach. In dem neuen Raum finden sie nichts außer ein Lied. Die Ge­schlif­fen­heit der Umsetzung der Episoden klärt die thematischen Bindungen, ohne sie gänzlich zu erörtern; manifestiert sie bildlich und kurz und begibt sich fort. Unwahrnehmbare Luft gelangt in die Einstellungen. Nicht die Vorbestimmung ist es, welche die Figuren heimsucht, sondern die Möglichkeit der Möglichkeit, die sich unangekündigt präsentiert. Die sich daraus ergebende Störung ist in den Signalen im Radio des Unterbewusstseins, das immer im Begriff ist, weiterzuspielen.Gertschs Film konfrontiert die Figuren behutsam mit sich selbst. Die Überraschung wird hier als formale Strategie eingesetzt, die ihre Kapazität nicht missbraucht, sondern sie maßvoll einsetzt, um ein Lied zu spielen und es unerwartet den Rahmen füllen zu lassen. Es steckt Liebe in diesen Worten. Die Figuren bauen je einen Spiegel nach ihren Kontexten auf, im-oder explodieren je nach Ergebnis der Konfrontation. Man weiss nie, was passieren wird.

Notes

  • 1
    Badiou, A., & Truong, N. (2011). Lob der Liebe: Ein Gespräch mit Nicolas Truong. Passagen-Verlag. S.54