Ich hab dich tanzen sehn

Die Zeit, schreibt Wolfgang Ernst1Ernst, W. (2012). Gleichursprünglichkeit: Zeitwesen und Zeitgegebenheit technischer Medien. Kulturverl. Kadmos, wirkt unaufhörlich in der Natur der Medien. Wir sollten also von zeitbasierten Medien sprechen, die Zeitweisen entfalten. Das Kino, verstanden als zeitliche Weiterentwicklung der Fotografie, steht nicht nur für die weltverändernde Möglichkeit der beweglichen Unterhaltung durch Bilder, deren Elemente nur auf der Leinwand anwesend sind, sondern auch für eine andere Auffassung von Zeit. So wie fotografisches Material so lange in der Welt betrachtet werden kann, wie die*der Betrachter*in es wünscht, kann der Film die Zeit begrenzen und Bilder und Ton in kompartimentierten Intervallen präsentieren. Dies ist jedoch nur ein Aspekt unter anderen, in denen die Zeit in den Medien verstanden werden kann. Die Zeitlichkeit des Films qua seiner Struktur, die sich durch seine Gesamtheit, Dauer und Unterteilungen bemerkbar macht, ist nur ein Aspekt. Von Bedeutung ist aber auch die Temporalität des Films als materielles Objekt, das in der Lage ist, reproduziert, kopiert und viele Male zur gleichen Zeit gesehen zu werden.

Gleichzeitigkeit ist, wenn nicht ein überholtes Thema, was die Rede um Medien betrifft, so doch eine gelebte Realität, weshalb sich das immer stärker werdende Bedürfnis, in Neues einzutauchen, das zu endlosen Stunden der Aktualisierung führt, bereits als Teil des Lebens etabliert hat. Die Annahme ist, dass die fragmentierte Welt, die sich einst den Augen entzog, wahrnehmbar wird. Durch Bildschirme werden viele Brücken gebaut; gesamte Gebiete, sowohl geistige als auch territoriale, werden kartiert. Das Ganze wird erfahrbar. Ohne Technik wäre der Blick auf diese Gesamtheit verstellt. Nur die Technologien des Körpers wären von Nutzen, die Sinne und ihre Fähigkeit zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu tasten und zu riechen würden erneut in den Vordergrund treten. „Ich hab dich tanzen sehn“ versteht die Zeit aus der Perspektive der Beobachtung, jener Momente der stillen Kontemplation und des Staunens über die Welt um eine*n herum. Es ist kein Sehen als Mittel, sondern ein Ziel an sich, das durch die Augen einer jungen Figur, Margarita, erlebt wird. Ihre Beobachtung verschiedener Menschen erfordert eine scheinbare Unterscheidung, die das Außen vom Innen trennt. Die beobachtende Person steht vermeintlich draußen und das Innere ist durch ihre Augen zu sehen. Von außen, so die Behauptung, lässt sich ein Begriff von Endlichkeit bilden, eingerahmt in vier Ecken, eine Menge, die eine Menge umfasst. Aus dem Ganzen der Welt wird ein profilmischer Raum ausgewählt und gestaltet.

Margarita zeigt den Weg. Ihre Sehnsucht zu sehen entfaltet die Welt.  Aber zuerst erscheint sie als eine Figur, fast unmerklich in einer geschickten Komposition, die ihr zunächst genug Raum gibt, um zu verschwinden. Eine Stadt in den Bergen, deren Straßen mit Regen bedeckt sind, wird durch ihre Perspektive verstanden, wobei die Kamera langsam ihre Position als Betrachterin einnimmt und auswählt, welche Bewegungen sie hervorhebt. Was durch die hypertechnologische Entwicklung unhörbar geworden ist, wird wieder hörbar, und das Geräusch kaum verstandener Sätze begleitet die Umgebung Margaritas. Die höchste Definition der Realität ist oft nicht leicht zu verstehen. Margarita beobachtet, umrahmt die anderen Figuren in ihren Einstellungen, erstellt ihren eigenen Bericht über ihre Erfahrungen, den sie weder schreibt noch laut ausspricht, sondern erfährt. Genau das ermöglicht ihr einen Bruch. Sie kann Momente so manipulieren und einrahmen, dass sie den Sound ausmacht, wenn sie Tom (das „Dich“ im Titel) tanzen sieht. Sich die Wirklichkeit aneignend, manipuliert Margarita kurz vor dem Ende unauffällig und doch spürbar die Elemente des Films. Auf diese Weise ist die zuvor formulierte Hypothese teilweise richtig: Das Endliche, das Gerahmte, kann leicht von dem angeblichen Draußen nachvollziehbar und manipulierbar werden. Der Blick aus diesem Standpunkt beinhaltet eine gewisse Überlegenheitsposition, in der das Gesehene bewertbar wird. Margarita sieht die Welt wie eine Kamera, deren Aufnahmen, die aus Körpern Figuren machen, die Schönheit suchen, unaufhörlich und verliebt in alles, was die Welt zu umfassen vermag.

Wenn die Differenz zwischen Außen und Innen notwendig ist, um die Position des zuschauenden Menschen zu bestimmen und dieser Position ihre Grenzen zu geben, dann wird durch Sarah Pechs sensorischen Zugang zum Film relativ schnell klar, dass, wie Niklas Luhmann2 Luhmann, N. (2013). Beobachtungen der moderne. Springer-Verlag., die feministische Standpunkttheorie3Hekman, S. (1997). Truth and method: Feminist standpoint theory revisited. Signs: Journal of women in culture and society, 22(2), 341-365. und andere zeitgenössische Theoretiker*innen4Holz, H. H. (2016). Weltentwurf und Reflexion: Versuch einer Grundlegung der Dialektik. Springer-Verlag. in unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Weisen nahelegen, diese Unterscheidungen auch dazu da sind, das Subjekt zu konstituieren, nicht von Innen oder Außen, sondern in den Zwischenräumen dieser Distinktionen. Erfahrung ist mitgegeben, die Begrenzung des Außen als absolute Unterscheidung ist trügerisch, denn die Welt ist kein kantianisches Videospiel. Wie Margarita erfährt, ist sie als Betrachterin bereits eine in das Filmische eingebettete Figur; sie kann sich nicht völlig von der Welt entkoppeln, denn die Figur ist da, auch durch Stimmung, Blick oder Ton. Wenn sie sich ihrer Einbettung in den Film bewusst wird, verwandelt sich das von der Kamera erzeugte Bokeh in scharf gezeichnete Objekte, Straßen, Bäume und Lichter. Betrachten bedeutet auch, an der Welt teilzuhaben, vielleicht auf eine stille, jedoch nicht weniger bedeutungsvolle Weise. Wenn die filmische Betrachterin die Leinwand verlässt, ist es an der Zeit, durch das Fenster zu gehen, dem Auto hinterherzujagen, wieder zu sehen. Vielleicht jetzt mit anderen Augen.

Notes

  • 1
    Ernst, W. (2012). Gleichursprünglichkeit: Zeitwesen und Zeitgegebenheit technischer Medien. Kulturverl. Kadmos
  • 2
    Luhmann, N. (2013). Beobachtungen der moderne. Springer-Verlag.
  • 3
    Hekman, S. (1997). Truth and method: Feminist standpoint theory revisited. Signs: Journal of women in culture and society, 22(2), 341-365.
  • 4
    Holz, H. H. (2016). Weltentwurf und Reflexion: Versuch einer Grundlegung der Dialektik. Springer-Verlag.