Fallende Blätter

Fallende Blätter bewegen sich müde Richtung Boden, wenn der Sommer ihnen nach Monaten das letzte Grün aus den Zellen gezogen hat. Sie fallen, färben die Straßen und kleben sich langsam auf den nassen Asphalt. Die Nächte werden jetzt kälter. Als Kind hat es mich traurig gemacht, die ersten Blätter fallen zu sehen. Der Sommer war vorbei. Jetzt fällt mit ihnen die Nervosität so mancher heißer Tage.

Ansa (Alma Pöysti) kommt erschöpft von der Arbeit an der Supermarktkasse nach Hause. Sie macht das Radio an, setzt sich an den Küchentisch. Sie ist allein. Draußen ist es schon dunkel und das Licht der Lampe über dem Küchentisch taucht ihre Küche in eine Komposition aus Farben und Gegenständen – Tisch, Radio, Lampe und Ansa, die da sitzt in ihrer Wohnung, in einer finnischen Stadt. Die Nachrichtensprecherin berichtet von erneuten russischen Angriffen in der Ukraine. Ansa hört kurz hin, dreht dann schnell am Rädchen. Später wird sie sagen, ohne weiter darauf einzugehen: „Der verdammte Krieg”. Ein weichgespültes Volkslied, das vom Leben erzählt, übertüncht die nahe Bedrohung, die schwer zu fassen, abstrakt und doch so konkret in direkter Reichweite liegt – stilisiert und entblößt. “Fallende Blätter” von Aki Kaurismäki folgt der ungelenken Erzählung einer Liebeskomödie, doch ist es eben jenes Gefühl von Distanz, von abstrakter Nähe, verquickt mit trockenem Humor, das sich den Protagonist:innen annähert und sie zugleich in Szene setzt.

Nach Ansa lernen wir Holappa (Jussi Vatanen) kennen. Auch er verrichtet tagsüber eine Arbeit, deren Entlohnung nicht dem Entzug der Energie nachkommt, dem sein Körper ausgesetzt ist. Entfernt in ihren Wohnungen findet Ansa nach getaner Arbeit im warmen Essen aus der Mikrowelle Behaglichkeit und Holappa im Flachmann. Auch wenn diese Charaktere irgendwo da draußen ihre Spiegelbilder finden, bahnen sich hier geschlechtliche Stereotype der häuslichen, ordentlichen Ansa und des trinkenden, ungeschickten Holappa an, die sich in den Verlauf der Geschichte weben. Stilisierte Bilder zweier Menschen und doch bestimmen beide die Handlung und werden von ihr bestimmt, die sie konstant in unerwartete Ereignisse verwickelt.

“Lass uns gehen”
“Wohin”
“Zum Karaoke, es ist Freitag”
“Harte Männer singen nicht”
“Aber du bist nicht hart”

Mit ergrauten, zurück gegelten Haaren setzt Holappas Freund Huotari (Janne Hyytiäinen) die Sonnenbrille im von Scheinwerfer beleuchteten Schlafraum auf. Rock’n Roll dringt aus dem Off, Holappa nimmt einen Schluck aus der Flasche und die beiden machen sich auf den Weg. Hier in der Karaokebar, die eine Ausflucht aus dem Alltag bietet und singende Männer die voranschreitende Narration des Films für einen Moment anhalten, kreuzen sich Ansas und Holappas Wege – oder besser, ihre Blicke. Denn sie reden nicht miteinander. Sie schauen sich an, sie schauen weg, wagen es nicht, ihre Mundwinkel zu verziehen oder einen Schritt zu tun. Danach sind sie wieder in ihrem Alltag, bei der Arbeit, in Bars, auf der Straße, in der Küche. Ansa verliert ihren Job im Supermarkt, weil sie ein abgelaufenes Sandwich an einen bedürftigen Passanten gibt und Holappa wird betrunken von der Baustelle gefeuert.

Armut und Suchtkrankheit, das Ringen mit Vorgesetzten, die kein Verständnis für die Konsequenz ihres Handelns zeigen, das regelmäßige Eindringen des Krieges durch die Stimmen im Radio und eine Liebesgeschichte, die so schroff und leise daher kommt, gehen in ausgeleuchteter, filmischer Situationskomik auf. Irgendwie nahbar, da die beobachtenden Gesichter mehr über sich selbst erzählen, als es ihre Münder je formulieren könnten und gleichzeitig stilisiert, vereinfacht und weit weg. Denn während die täglichen Meldungen zum Krieg in der Ukraine seit Jahren auch in meinen Alltag einsickern und ein Gefühl von anhaltender Nervosität produzieren, scheinen Ansa und Holappa doch in einer Parallelwelt zu existieren. Die Aufnahmen versetzen uns in eine filmische Inszenierung der 1950er Jahre zurück – die reflektierenden gegelten Haare, die Schatten an der Wand vom frontalen Licht der Scheinwerfer hinter der Kamera, die Lederjacke, das Radio, die Musik, die Farben. Das einzige digitale Gerät ist ein Laptop im Laden um die Ecke, an dem überteuert der Zugang zum Internet möglich ist. Eine Parallelwelt, die sich verträumt und distanziert seitwärts zu einem Jetzt bewegt. Kaurismäki versteckt die Inszeniertheit der Protagonist*innen keineswegs.

An diesem Laptop findet Ansa ihren nächsten Job als Küchenhilfe im California Pub. Doch wird ihr Chef noch vor Monatsende wegen Drogenhandel von der Polizei verhaftet und sie steht wieder da, ohne Geld und ohne Job. Wer die Verhaftung neben Ansa zufällig beobachtet, ist Holappa. Wie eine natürliche Konsequenz ergibt sich daraus ihre erste Verabredung zu einem Drink und dann ins Kino. Doch als Ansa Holappa ihre Telefonnummer gibt und er diese sofort verliert, nimmt die unglückliche Verkettung an Ereignissen ihren Lauf. Holappa wartet jetzt jeden Abend vor dem Kino in der Hoffnung, Ansa wird irgendwann zurückkommen. Und tatsächlich, eines Tages taucht Ansa vor dem Kino auf und die beiden gehen zu ihr nach Hause. Doch bleibt die Geschwindigkeit des Filmes gleich. An Ansas Küchentisch essen die beiden zu Abend und sitzen dann voneinander entfernt auf dem Sofa. Keine Berührung, nur Blicke und der eine oder andere Satz isoliert im Raum. Irgendwann hält es Holappa aber nicht mehr aus und greift heimlich zu seinem Flachmann.

“Mein Vater war ein Säufer, mein Bruder war ein Säufer. Ich mag dich, aber ein Säufer kommt mir hier nicht rein.”

Holappa nimmt seine Jacke und verschwindet. Er zieht sich zurück und geht in einem dunklen Zimmer mit Bett durch einen Entzug, der eher einer Karikatur gleicht. Kaurismäki greift die Härte der Lebenssituationen von Ansa und Holappa auf, verdreht diese in einer Komik, die den Protagonist*innen eine Handlungsmacht verleiht, die über ihre unausweichliche Situation hinweg blickt. Denn Scham, wie sie in Didier Eribons Roman “Rückkehr nach Reims” auftaucht und sich in Pierre Bourdieus‘ Denken um den Habitus wiederfindet, hat in “Fallende Blätter” keinen Platz. Nach Jahren der Distanz beschreibt Eribon in seinem Roman die Erfahrung, in das soziale Milieu zurückzukehren, in dem er aufwuchs. Er realisiert, dass die sexuelle Scham, die er als homosexueller Mann in diesem Umfeld verspürte, mit dem Milieuwandel von einer Herkunftsscham abgelöst wurde. Dabei agiert die Scham bei Eribon durch das Verstecken, in der Ein-Schränkung: “permanente Kontrolle der Gesten, Vokabeln und der Intonation, um ja nichts durchscheinen zu lassen, sich ja nicht zu ‘verraten1 Eribon, Didier, “Rückkehr nach Reims”, Berlin 2016, S. 20-21. ’”. Die Protagonist*innen in “Fallende Blätter” scheinen nichts zu verstecken. 

Doch müssen Ansa und Holappa noch ein Hindernis überwinden, bevor sie endlich gemeinsam gen Horizont verschwinden können. Mit Telefonnummer ausgestattet ruft Holappa Ansa an, um ihr mitzuteilen, dass er trocken ist. Sie sagt, er solle zu ihr kommen. Doch Holappa kommt nie. Auf dem Weg zu Ansa wird er in einem Schreck von der Straßenbahn erwischt und fällt ins Koma. Ansa erfährt davon erst viel später und besucht ihn daraufhin jeden Tag im Krankenhaus, bis er aufwacht und der Film glücklich endet.

Doch fallende Blätter finden kein Happy End. Sie sind die Vorboten der Veränderung, ein Symbol von Vergänglichkeit. Die Materie vertrocknet und wird zu neuem Nährboden, zu Staub. Wie Plastikobst, das für immer frisch bleibt und das Leben wie den Tod leugnet, fängt Kaurismäki in “Fallende Blätter” die Einsamkeit und Schwere des Alltags der beiden Protagonist*innen als stilisiertes Bild ein und setzt sie in Szene, bevor sie sich, wenn der Regen kommt, auf den Asphalt kleben und langsam ihre Form verlieren. 

Text von Elisa Maria Schmitt.

Notes

  • 1
    Eribon, Didier, “Rückkehr nach Reims”, Berlin 2016, S. 20-21.