Music: Nebel, Chiffren und das leere Bild
S
chroffe Berge in blassem Dunkel. Nebel kommt auf und zieht stumm über das Bildfeld, verschleiert die Sicht, schleichend, friedlich und doch bedrohlich. Bis die Spannung in einem Donnerschlag kulminiert und das nächste Bild folgt. Der Grund für das stattfindende Unglück ist nur hörbar, unsichtbar. Der Donner ist der Auftakt für die Musik des Leids, die sich später im Film entfalten wird. Der aufziehende Nebel scheint sich im Kontrast zu den schnellen Sprüngen der Montage nahezu unendlich zu dehnen und über die regungslosen Gesichter und lethargischen Körper der Menschen zu legen; wie Müdigkeit. Ihre Blicke sind nachdenklich-ernst oder verträumt-entrückt. Es ist, als hätt‘ der Nebel die Menschen still geküsst1Frei nach Eichendorffs Mondnacht.– und blind gemacht.
Die erste Szene ist symbolisch für den ganzen Film, für den Zustand der Figuren – ihre Körper sind angespannt, ihre Augen angestrengt und erschöpft, Gefühle scheinen verschleiert; doch dann, in verdichteten Momenten – in einem Donnerschlag und einem folgenden Verzweiflungsschrei – entlädt sich die Spannung in kurzen, fatalen Ausbrüchen von Gewalt. Dabei ist der durch den Wind aufwirbelnde Staub ein Anzeichen für bevorstehendes Unheil. Ihm folgen Blicke, unergründliche Blicke, die in ihrem nachdenklichen Innehalten eine orakelartige Qualität erlangen. Sie scheinen von einem Zögern erfüllt, das die Realität anzweifelt und nahezu Meta-Kommentar ist. Lucian verliert sich in seinem Begehren für Jon und schließt die Lider vor dem aufgezwungenen Kuss. Er wurde mit geschlossenen Augen vorgestellt – im ersten Close Up seines Gesichts, und er wird auch so verabschiedet. Als er sie öffnet, trägt er keine Brille. Ein alter, greiser Mann hat sie ihm abgenommen, als er bewusstlos auf dem Boden lag. Daraufhin erwacht er, angstvollen Blickes. Als er, tot, mit einer Kopfwunde auf den Felsen liegt, friedlich, mit geschlossenen Augen, ist seine zuvor schon geklebte Brille heruntergefallen. Und Jon glaubt seinem bloßen Auge nicht. Als er begreift, lässt er sich in die wissenden Arme einer namenlosen Freundin fallen und stößt den zweiten Schrei der Verzweiflung im Film aus. Ganz wie sein Vater, als er glaubte, seine Frau verloren zu haben. Die zentralen Motive wie Nebel, Staubwolken, das Akzentuieren der Blicke und das Ab-und Aufsetzen von Brillen verweisen auf das zentrale Themenfeld der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, des Sehens an sich. Jon und sein Vater, Jon und seine Mutter schauen sich lange in die Augen, und doch erkennen sie sich nicht. Die Wahrheit wird erst erfasst, als die Brille abgesetzt wird – wie Jon in der Polizeiwache in Berlin und Lucian, der nach der Nacht des Unglücks erwacht. Bei der Granatapfelernte blickt Iro einmal fast direkt in die Kamera – eigentlich ihre Tochter an – , versucht ihr zuzuwinken, aber ihre Augen werden verdeckt von Haarsträhnen, die der Wind ihr ins Gesicht bläst. Trotz dieser Ästhetik des Verschleierns, zeichnet sich der Film auch durch eine visuelle Klarheit aus; besonders die Gesangsszenen in Berlin wirken ästhetisch geradezu glatt. Dies erzeugt eine Ambivalenz zwischen dem Minimalismus auf narrativer und stilistischer Ebene und einem formalen und symbolischen Reichtum, durch die Auf-und Beladung mit dem Mythos. Es ist sowohl Schanelecs chiffriertester, als auch ihr – bezüglich der Aussage – deutlichster Film. Er ist wie das Rätsel der Sphinx, auf den ersten Blick hermetisch abgeschlossen, aber im Kern geht es um den menschlichen Zustand, das Überleben.
Auch die Gestaltung der Zeit weist eine Widersprüchlichkeit auf. In den Leerstellen, dem Ausgelassenen, vergehen Jahre, Jahrzehnte, nahezu unbemerkt; die Geschehnisse rasen und stagnieren zugleich in langsamen Einstellungen, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Narrative Ellipsen lassen weiße, unbeschriebene Blätter in der Erzählung; nebulös unsichtbar, wie von der heißen, grellen Sonne Griechenlands überblendet. Das Mittel der Raffung von Zeit durch den Schnitt ist stumm, macht aber die Stille zu Lärm, weil sie eine absolute Stille mit einer lauteren kontrastiert; die Geräusche eines Autos und die der Wellen werden auf andere Weise hörbar, die die Friedlichkeit eines schauenden und lauschenden Babys, oder die eines verlassenen Zimmers stört. Stille hat verschiedene Nuancen und Lautstärken. Bevor Iro Suizid begeht, ist sie von Meeresrauschen umgeben; es tritt, als einziger Sound der Stille, an die Stelle der brandenden Grausamkeit des Lebens, vor der sie sich flüchten will. Sie versteckt sich hinter Felsen vor ihrer Familie, schmiegt sich an die großen, stummen Steine; sie starrt leeren Blickes in die Wellen auf der Seite der Zuschauenden. Als sie ihre Tochter nach ihr rufen hört, schließt sie die Augen. Ihr Körper liegt parallel zur Diagonale der Felsen, selbst zu einer Sedimentschicht verstummt. Dann kommt sie seitwärts um ihn herum geklettert, wie der Krebs auf der Hand des nackten Mannes – keinen Ausweg sehend2Sie fällt wenig später, wie jener Krebs, in die Freiheit. . Sie sind eigentlich schon Grabsteine, auf denen sie die Augen schließt; wie Astrid in Ich war zuhause, aber. Am Ende dieser Szene folgt ihr die Kamera nicht mehr; zurück bleibt das statische Bild eines Felsen, jetzt bildfüllend. Die nächsten beiden Einstellungen sind kurz und unbewegt wie Schlusspunkte. Sie entkommt dem Fatalismus der Gesteine nicht. Denn es sind die gleichen Steine, die ihr vorher noch Schutz boten, auf denen sie wenig später ihr Leben verliert; wie auch Lucians Kopf auf sie prallte.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus3Druckversion aus: Detlef Krämer, Joseph von Eichendorffs “Mondnacht” und die romantische Naturphilosophie, in: Zeitschrift für Germanistik, 2009, Vol.19, S.97. .
Ein gewisses Begehren für die Entgrenzung und Auflösung des Ichs lässt sich, wie in der literarischen Romantik, auch in Music feststellen. Wobei die Sehnsüchte nicht in einer berauschenden Traumwelt imaginiert – aber niemals erfüllt – werden, sondern sich die Dumpfheit des Traums über das Reale gelegt hat. Der Alltag ist zu einem surrealen Traum geworden. In Mondnacht von Eichendorff geht es in der letzten Strophe um eine Heimat, die nicht erreicht werden kann; der letzte Vers schwebt im Konjunktiv. In Music antwortet Iro in einem Telefonat auf die Frage, ob sie zuhause sei: Zuhause? Nein. Was meinst du mit “Bin ich zuhause?”. Danach begeht sie Selbstmord, indem sie von einer Klippe ins Meer springt, in die Auflösung. Diese ist bei Schanelec aber weniger Transzendenz, als Ergebnis von einem verzweifelten Wunsch nach Stille. Auch in Der traumhafte Weg und Ich war zuhause, aber finden sich Momente, in denen sich Frauenfiguren wie verträumte Kinder auf den Waldboden oder auf Flusssteine legen. Hier war es eine Art, den Verpflichtungen, dem Sinnhaften der Mutterrolle zu entgleiten, ins Träumende. Dies kulminiert radikal in Music, in dem Selbstmord einer Mutter4Für mehr darüber, siehe: Landry, O. (2022). A Gendered Suspension of Time: Waiting in the Cinema of Angela Schanelec. Feminist German Studies, 38(1), 160-181.; es vollzieht sich, was in den beiden vorigen Filmen angedeutet wurde.
Auch die Vermischung von Traum und Realität – ein typisches Motiv der Romantik – wird formal erzeugt, indem mit unterschiedlichen Bewegungsrichtungen gespielt wird. Als Jon und seine Freunde eine Autopanne haben, rollt ein Reifen nach links auf der Straße bergab. Als sie sich aber daraufhin nach ihm umsehen, blicken sie nach rechts. Der Schnitt hat also eine fiktive Qualität, die Chiffren und Ambivalenzen erzeugt; wie Marker des Surrealen, die stellenweise sanft aus dem Unterbewusstsein des Films auftauchen. Der widersprüchliche Dynamikverlauf über die Integrität der Szenen hinweg5vgl.: Mathieu Macheret in seiner Music Review zur Kontralinearität zwischen den Einstellungen: “c’est par sautes différentielles que l’on passe des uns aux autres, dans une continuité rétroactive, reconstruite a posteriori.” In: Cahiers de Cinéma, März 2023, S. 34-35., versinnbildlicht als kleine Formel auf visueller Ebene das ödipale Gefangensein in der Voraussagung des Orakels. Öfters wird auch das Mittel der gegenläufigen Reflexionen verwendet, die – hier innerhalb der Szene – auf jene deterministische Ausgeliefertheit des Menschen verweist. Die Tragik des Ödipusmythos liegt auch darin, dass mit dem Versuch, die Voraussagung zu verhindern, genau diese eintritt. Die konträre Bewegung führt letztlich zum selben Punkt. Als Lucian aus dem Auto steigt und sich Jon nähert, verläuft seine Spiegelung in die entgegengesetzte Richtung, wieder zurück. Auch als Jon das Gefängnis verlässt, passiert Ähnliches; nur diesmal bewegt sich das Abbild gewissermaßen auf die physische Gestalt zu. Die Laufrichtung des ersteren weist darauf hin, was er tun sollte; die Absurdität des Geschehens widerstrebt und spaltet den Körper. Denn Jon ist kurz davor, eine Liebesbeziehung mit seiner leiblichen Mutter zu beginnen. Bei Lucian ist es das Spiegelbild, das vor dem realen Körper, der den Überfall begehen wird, flüchtet; sich von ihm löst wie von einer alten Haut. Bei Jon ist es der reale Körper, der dem Spiegelbild entgegen läuft, in die Richtung des Traums. Realität und Traum verschmelzen. Als Jon die Polizeiwache in Berlin verlässt, trägt er die Lichtreflexionen direkt vor den Augen. Er hat erkannt und gleichzeitig erblindet er. Die gespiegelte Wahrheit über seine Lebensgeschichte auf seinen Brillengläsern belasten seinen Schritt, er taumelt hinaus, in den schweren schwarzen Schuhen der Schuld. Sie trübt sein Auge, während die Sprache seiner Lieder direkt und gläsern ist. Plötzlich sieht er klar, als er nicht mehr klar sehen kann.
Die Kulisse ist paradiesisch schön, sonnenbeschienen, aber von einer Sonne, die die Farben mehr ausbleicht, als diese zum Strahlen zu bringen. Tatsächlich trügt die Idylle, – wie in der Romantik auch – liegt oft eine unterschwellige Bedrohung in der Natur. Die Schwarze Romantik liegt in den nachtfarbenen Sportschuhen Jons in Berlin, sie liegt in der dicken, dunklen Umrandung seiner Brille, in den Wunden an seinen Füßen, im Selbstmord seiner Frau und Mutter, im Totschlag seines Vaters. Es ist eine düstere und eine rote Linie, die sich durch sein Leben zieht. Eine Linie, die ihren ersten Impuls im Aufkommen des Winds nimmt. Trockener Staub wirbelt auf und verschleiert die Wahrnehmung der Figuren im Film – er lässt Lucian nicht erkennen, dass Jon sein Sohn ist, Jon nicht erkennen, dass er seinen Vater tötet, Iro nicht erkennen, dass sie sich in ihren eigenen Sohn verliebt. Als sie erfährt, dass er ihren ehemaligen Geliebten umgebracht hat, sitzt sie in einer roten Tür; rote Schnüre am schwarzen Treppengeländer. Sie ist in tiefes Blau gekleidet, wie die Tiefe des Meeres. Das Summen von Fliegen ist unbehaglich laut.
E
ine Frau träufelt Salzwasser auf die geröteten, wunden Füße eines Babys; Meeresrauschen. In der nächsten Szene rast ein Auto über einen trockenen Weg, kommt zum Stehen und verschwindet in einer Staubwolke; dem klaren, reinigenden Wasser folgt der unheilbringende, trübe Staub. Wenig später verbindet sich der jugendliche Jon die noch immer wunden Füße mit einer bloßen Binde in der Dürre griechischen Bodens. Er badet im Gegensatz zu seinen Freunden nicht. Er ist ernsten Gesichtes zurückgekehrt, die Augen zu Boden gewandt, nachdem er sich dem festen Blick einer Freundin entzog. Schamhaft dreht er um, nachdem er sich vorsichtig über raue Felsen tastete.
Ein blutverschmiertes Baby wird behutsam aus einer Steinhütte geborgen. In der folgenden Autofahrt ist es ganz ruhig; es wird aus dem Auto gefilmt. Das Innere ist statisch, die Landschaft rast vorbei. Auch das Meer hat in der Ferne diese unbewegte Friedlichkeit, mal wird es kurz ganz von der schnellen Unschärfe vorüber ziehender Felsen verdeckt, dann öffnet es sich wieder ganz weit. Von derselben andächtigen Ruhe überzogen, die den Innenraum mit dem Säugling erfüllt. Es ist das erste Mal, dass das Meer gezeigt wird. Diese Dynamik der fahrenden Felsen spürt das Auge noch, wenn es wenig später einen abgedunkelten, weißen Raum betrachtet. Die Leere des Schlafzimmers ist die Absenz der Mutter und des Vaters; die Adoptivmutter ruft den Namen des neuen Adoptivvaters. Die leibliche Mutter wurde vom Vater zurückgelassen in der Dunkelheit, an einem steilen, felsigen Abhang. Dieser hallt noch nach, in der Stille des Zimmers. Am Anfang des Films steht das durch seine Ferne statische Meer, am Ende das ruhige Wasser des Sees, das Körper direkt umfasst und statt von rauen, spitzen Felsen, von üppigem, dunklem Grün umgeben ist. Als Jon seinen Vater tötet, ist er ruckartig aus dem Bild verschwunden; was bleibt, ist eine unscharfe Meeresfläche – ihm ist die Linderung des Wassers verwehrt. Mit jedem Atemzug des Schocks bewegt er sich jedoch wieder etwas mehr von links außen vor die Aussicht auf das unerreichbare Wasser. Am Ende des Films badet er dann wirklich, auch wenn man ihn nur aus der Ferne sieht.
To open my eyes, so she can roll through me6Liedstrophe von Doug Tiellis Look at me, gesungen von Jon direkt vor der im Folgenden beschriebenen Einstellung. . Jons Tochter rudert das Boot über den See und er selbst hat die Augen mit seinem Arm verdeckt. Während die neue Geliebte in ihre Richtung schwimmt, hört man das Geräusch eines Körpers, der auf Wasser trifft. Ein Aufprall, der nach dem Sprung von Iro nicht zu hören war. Die unberührte Wasseroberfläche; dann taucht Phoebie wieder auf. Die Mutter ist aus dem Bild gesprungen, die Tochter ist wieder aufgetaucht. Ihr Suizid war tonlos und Jon ist Berufsmusiker; die Musik hilft ihm, zu überleben. Diese schmerzliche Ironie trägt auch eine tiefe Melancholie in sich, die in diesem Moment zur Ruhe zu kommen scheint und doch ihre radikale Klimax erreicht. Zuvor, nachdem Jon Beyond our lives, also über Transzendenz gesungen hat, steht seine neue Geliebte ihm gegenüber, mit offenen Augen; auf ihrem Oberteil sind Wasserwirbel. Er singt Sink with me, like a grain of salt, into the sea. Es war Iro, die wie ein Salzkorn ins Meer sank und dort starb.
Ein bedrückendes Unbehagen bleibt zurück, trotz eines hoffnungsvollen Endes. Es erscheint fast brutal, dass Jon weiterlebt und eine Sprache für seinen Schmerz gefunden hat; den Gesang. Während Iros Selbstmord so ungreifbar stumm, lautlos verlief, singt Jon mit klarster Tenorstimme, in einer nahezu knabenhaften Unschuld. Es ist zynisch, dass der erste gesprochene Satz Tschüß Sofia ist und der erste eigene Song des Protagonisten Hey Milo heißt. Schon bei Jons Geburt ist Iro fast gestorben. In solchen Details liegt eine schmerzliche Groteske, denn er lebt weiter trotz seiner Schuld; während ihr frierender Körper mit den blassen, kühlen Farben der grauen Felsen verschmilzt7Zuweilen rutscht die Visualität in das Klischee der weiblichen Blässe ab. Wobei Weiblichkeit und Männlichkeit nicht stereotyp verhandelt werden. , bevor sie Selbstmord begeht. Zwar behält man mit allen Charakteren – wie für Schanelec üblich – eine kühle Distanz, doch ist das bei Jon nochmal verstärkt. Er erscheint auch noch am Filmende fremd – mit seinem angespannten, regungslosen Gesicht; wie in Stein gemeißelt. Die glatte Kühle seiner Marmorhaut ist nahezu spürbar. Dessen ist sich der Film aber durchaus bewusst: I am a foreign object, who stayed open for love, wie Jon in Look at me von Doug Tielli singt. Auch Iro ähnelt der Madonna in Michelangelos Römischer Pietà, wobei sich durch diese Ähnlichkeit nur der Leidgestus in ihrem Gesicht vertieft, statt dass sie kälter wirkt. Music geht als Film ähnlich schonungslos mit Iro um, wie mit Mimmi in Plätze in Städten. Die Verlorenheit der Figur spitzt sich hier gegen Ende sehr zu. Mimmi irrt dehydriert und schwanger durch Paris, eine Stadt, von der sie abgelehnt wird. Das Licht geht aus und sie wird einsam im Dunkeln zurückgelassen, so wie Iro in ein Unsichtbares unter der Klippe verschwindet.
In der rätselhaften Berlin-Episode wird ein Geschichtenstrang aus Der traumhafte Weg wieder aufgenommen; auf nahezu versöhnliche Weise. Wo hier eine Liebe in Berlin auf radikalste Weise zu Ende geht, beginnt sie in Music gerade dort. Obwohl es auch in einer artifiziellen Umgebung wie dem Potsdamer Platz spielt, ist für die Berlin-Episode in Music der grüne See als Schauplatz bezeichnender als der Betonasphalt vor dem Hauptbahnhof in Der traumhafte Weg. Allerdings liegt die eigentliche Radikalität von Music in der Härte, die gerade im Happy End liegt. Denn egal welcher Schicksalsschlag erlitten werden muss, die Sonne scheint weiter. Die einzige nächtliche Szene ist die zweite Einstellung, in der der Unfall gerade passiert ist. Der gesamte Film erzählt gewissermaßen auch ein Danach; von der Absurdität der Sonne, die weiter scheint. Das erinnert in seinem bitteren Beigeschmack gewissermaßen an Le Bonheur von Agnès Varda; gerade in der scharfen Überzeichnung der grellen Blumen des kleinbürgerlichen Idylls und der Ersetzbarkeit von Individuen. Wobei es sich bei Schanelec um keine Kritik einer patriarchalen Gesellschaft handelt. Die Bildsprache steht bei ihr weder im Dienste einer politischen Aussage, noch hat sie eine dezidiert narrative Funktion. Sie steht für sich; so wie die Geschehnisse des echten Lebens auch nicht immer einen sinnhaften Zusammenhang aufweisen.
Ein solcher Optimismus am Ende eines Schanelec Films scheint sehr ungewöhnlich, fast schockierend. Allerdings trügt der Schein, die Ambivalenz liegt im Detail. Das Auftauchen der Tochter ist die Metapher der Hoffnung schlechthin. Doch das Wasser kräuselt sich, leichter Wind kommt auf. Das neue Liebespaar wird nur aus großer Distanz gefilmt; sie scheinen in einer von Wind bewegten Landschaft zu versinken, in üppigem, aber düsterem Grün. Es ist keine ungetrübte Harmonie. Music hinterlässt jedoch weniger eine sarkastische Bitterkeit, wie Le Bonheur, sondern eine befremdende, melancholisch-schwere Leichtigkeit. Der long travelling shot am Ende ist wie eine Befreiung aus der Last des mythischen Stoffes. O Götter, ihr könnt mich verlassen (…) Du kannst mich in Tränen zurücklassen. Jon hat sich nicht wie Ödipus die Augen ausgestochen, sondern er lebt weiter und singt. Darin liegt trotz Kitschigkeits-Alarm auch eine Nüchternheit in der Sicht auf das Leben, wodurch der Film trotz aller Schwere seine Leichtigkeit behält. Ein Film, der in Leid schwebt; seine Figuren angespannt taumelnd. Träumend.
Und dann setzt der unendliche Geigenschwung Falconieris ein, während der Film die verstummten Figuren im hohen Grün entschwinden lässt. Fern.
Ein tiefer Sommer wird schweben
Auf laubigen Flügeln zur Erde,
Und eine rauschende Süße
Strömt durch das schwermütige Leben8Auszug aus Nebel von Else Lasker-Schüler, in: Else Lasker-Schüler: Gedichte 1902-1943, München 1983, S. 123. .
Notes
- 1Frei nach Eichendorffs Mondnacht.
- 2Sie fällt wenig später, wie jener Krebs, in die Freiheit.
- 3Druckversion aus: Detlef Krämer, Joseph von Eichendorffs “Mondnacht” und die romantische Naturphilosophie, in: Zeitschrift für Germanistik, 2009, Vol.19, S.97.
- 4Für mehr darüber, siehe: Landry, O. (2022). A Gendered Suspension of Time: Waiting in the Cinema of Angela Schanelec. Feminist German Studies, 38(1), 160-181.
- 5vgl.: Mathieu Macheret in seiner Music Review zur Kontralinearität zwischen den Einstellungen: “c’est par sautes différentielles que l’on passe des uns aux autres, dans une continuité rétroactive, reconstruite a posteriori.” In: Cahiers de Cinéma, März 2023, S. 34-35.
- 6Liedstrophe von Doug Tiellis Look at me, gesungen von Jon direkt vor der im Folgenden beschriebenen Einstellung.
- 7Zuweilen rutscht die Visualität in das Klischee der weiblichen Blässe ab. Wobei Weiblichkeit und Männlichkeit nicht stereotyp verhandelt werden.
- 8Auszug aus Nebel von Else Lasker-Schüler, in: Else Lasker-Schüler: Gedichte 1902-1943, München 1983, S. 123.