eine Frage

 

I

Ich habe einen Schmetterling getötet

Ich habe ihn ertränkt

In einem Teich im überheizten Zimmer

 

Ich erinnere mich an ihr Gesicht

treue Arme, Rinder

ihr großes Auge eine Hand

 

Ich erinnere mich an ihr Wort

sagt sie

es war leise

sagt sie, ja

 

Ein Hefezopf

sie flicht einen Zopf, tausende

schnee weiß

weißblutig, rasierte Köpfe

 

Ihre Wiederholung, eine hohle Frage

 

Ihre Wiederholung

 

das Bett das Unterhemd der Rücken

Sekunden Jahrzehnte diese blasse Haut

 

Das Wenigerwerden der Mutter, sagt E

Ja, sie ist weniger geworden eine Birke

 

Abgebaute Bewegungen

 

Er hat getrunken und starb

und starb

und starb.

Es starb eine Frage

Dort auf dem Fensterbrett

 

II

Alles ist Rücken, alles ist weiß

weiß ist das Haar, Vorhänge, heller

hinterm Garten hängen Hänge, enger

 

Seine Blässe gebräunte Hand

darin Augenlider, Umbrandungen

sorgenvoll versackt

flachsfarben, fast

 

ein anderes Braun, das nach Innen fällt

 

Ein Lächeln, gefaltet zwischen Laken

verhakte Hände

aufgelöst in Seifenlake

 

Adern, blaue

Dämme, Venengänge Gebirge

begangene

stolze Knöchel

 

Sie ist bescheiden

durchscheinend, ihre Haut

gläsern nirgend da

ihre Augen das Land

blautrüb

 

Und in jenen Augen, den anderen,

öffnet sich dorthin, dunkler

der Hang, hinter mechanischen Gesten

dort hin, über

 

Sie erlöschen nicht schwelend, gemächlich, matt,

sie verglimmen wie Gneise, greise

Schieferspalten, schwarz

ist keine Farbe mehr, schwarz

schwarz hat dein Auge gefressen.

 

Es ist ganz offen nach anderswo

 

Sie zeigt es selten, sie lächelt oft

(Manchmal blitzt Linse auf Linse)

 

Wasserglas Wasserglas

Versetzungen

Jalousien auf Jalousien Jalousien zu, zu

dir

Garten Garten

 

Schneewände wandeln

 

Es ist kein Ton

Nur ihr geerdetes Wort

Das auf dieser Leere steht.

 

III

Lakenlagen

Laken lagen auf ihrer Brust

 

Hände wussten was sie tun

Hände wissen nichts, mehr

Sie faltet die Hände, wenn sie schläft,

und wenn sie aufwacht, auch

die Nachthilflose

 

Ich sitze ratlos, die Stirn gestützt,

den Blick zwischen Tisch und Sofa im Leeren

aufgehängt

eine Wand aus weißem Haar

dazwischen Blumenblitze

Leben liegt in den Fingern, dahinter

blaue Stunden. Schrunden.

Sonnenblumen schwere Köpfe

 

Vielleicht liegt der gesamte Sinn des Lebens

darin,

zur Ruhe zu kommen,

sagt M

und der Film beginnt.

 

Ihr Schritt, draußen, schwer

ihr Schritt ermüdet, draußen

draußen, und die Bilder springen

 

bodenwärts

 

eine Tasse, ein Baum, ein Ohr

 

Sie kommt ganz nah heran, wenn sie mit ihr spricht

 

Draußen schneit es ins Zimmer.

 

Jeder Morgen flicht flachsfarben

Schneedecken zu

Schnecken rote Beete rot

 

Eine Birke aus weißem Haar

Unter

meinen

Augenlidern leben Birken aus weißem Haar.

 

Irgend Birken bergen

dich, nirgendweiß

 

 

 

 


 

Frei basierend auf: Der Schmetterling im Winter, Ute Aurand und Maria Lang

 


 

Cinévers versteht sich als literarische Sektion, die Nowhens Anliegen des poetischen und persönlichen Zugangs im Schreiben über Film vertieft. Ein Raum, in dem das audiovisuelle Bild und das Gedicht aufeinandertreffen, das eine in das andere übergeht – Kino, ciné, und Vers, vers.

Jeden zweiten Monat wird hier ein Gedicht von unserer Autorin Nele S. Kaiser veröffentlicht, das auf einem Film beruht. Zweimal jährlich werden andere Lyriker*innen eingeladen, einen Text zu einem Film zu verfassen. Die Idee hierbei ist, dass diese Autor*innen normalerweise nicht über Film schreiben, mit der Hoffnung, diese Kombination könne ungewöhnliche Perspektiven und neue Formkonzepte in der schriftlichen Auseinandersetzung mit dem audiovisuellen Medium hervorbringen.

Cinévers wurde durch die Überzeugung ins Leben gerufen, dass das Poetische greifen kann, was auf der logisch-sachlichen Ebene der Sprache nicht transportierbar ist. Das Lyrikformat wird sich nicht auf ein bestimmtes Filmgenre beschränken, hat jedoch einen Fokus auf experimentellen Film, da dieser das Finden von Worten und deren Grenzen besonders herausfordert. Auch Kurzformen werden wichtig sein, sind es doch diese, die durch ihre verdichtete, knappe Form der Lyrik oft am nächsten stehen.

Das Bezüglichkeitsverhältnis zwischen Film und Text kann dabei eng oder locker sein. An welchem Punkt zwischen Nähe und Distanz das jeweilige Gedicht angesiedelt ist, wird von der*dem Lyriker*in gewählt. Der Film kann sowohl als maßgebliche als auch als lose Inspirationsquelle verstanden werden. Es kann sich auch weiter vom Bezugswerk wegbewegt und vornehmlich ein Gedanke oder Bild weitergeführt werden. Ausgangspunkt soll jedoch immer der Film sein. Eine Grundidee ist dabei, dass in Struktur, Stil und Bildlichkeit des Textes etwas aufgegriffen wird, das der Film formal oder emotional macht; wobei Rezeption und Wirkung natürlich von der Individualität der schreibenden Person bestimmt ist. Die Form des Gedichts ist nicht vorgegeben, freie Verse, Reime oder ein prosaischer Stil sind willkommen. Die Autor*innen sollen sich keinesfalls durch das audiovisuelle Referenzwerk in ihrem Schreiben eingeschränkt fühlen. Sie sind wärmstens eingeladen, dieses auf sich wirken und sich von ihm stilistisch inspirieren zu lassen.

Das Format Cinévers versteht sich als freies Widmungsverhältnis zwischen Film und Text, das letzterem eine unabhängigere Rolle zuspricht, als das die Filmkritik in der Regel vermag, aber gleichzeitig auf der Sichtung von und Auseinandersetzung mit ersterem basiert. Letztlich ist das entstehende Gedicht in diesem Rahmen eine textuelle Hinwendung als cinephile Geste – der zweite Teil des titelgebenden Kompositums, vers (frz. für „Verszeile“ und „auf jdm./etw. hin“, „in Richtung von“), hierbei ganz im letzteren Sinne seiner Bedeutung.

Idee und künstlerische Leitung von Nele S. Kaiser. Die Texte werden in deutscher Sprache erscheinen.