Nele Wohlatz
Eine kalte Nacht, Schlangen von Menschen, die sich darauf freuen, einen Kinosaal zu füllen. Diese Szene wiederholt sich während der Berlinale in verschiedenen Kinos. In der Akademie der Künste, wo erst vor wenigen Tagen ihr Film „Dormir de olhos abertos“ Premiere hatte, traf Giancarlo M. Sandoval Nele Wohlatz zu einem Interview über die Entstehung ihres Films, Rassismus und die Bedeutung von Sound in ihrer Arbeit.
Nowhen: Wie läuft das Festival bisher?
Nele Wohlatz: Es ist ein Rollercoaster. Es ist total schön und so viel auf einmal. Erstmal rund um die Premiere.
N: Wie viele Vorstellungen habt ihr gehabt?
NW: Wir haben insgesamt fünf Screenings. Im Rahmen von Encounters gibt nicht immer Q&As wie im Forum. Ich gehe am letzten Tag noch mal den Film präsentieren, aber ich war eigentlich nur bei der Premiere dabei, was mir ein bisschen fehlt, weil es dieser merkwürdige Moment ist, wenn das, woran man so viele Jahre mit einem geschlossenen Kreis von Leuten gearbeitet hat, rauskommt. Es ist dann halt zu dem Urteil der Menschheit ausgesetzt. In der Rezeption gibt es viel Überraschungen, Sachen, die man überhaupt nicht gedacht hat. Dafür sind diese Publikumsgespräche total wichtig, um diese neue Phase zu betreten, in der der Film von allen ist.
N: Publikumsfragen sind oft etwas schwierig für Filmemacher*innen sind. Aber das ist für dich anders.
NW: Das ist schwierig insofern, dass es ein Sprung ins kalte Wasser ist, weil sich auf einmal der ganze Diskurs ändern kann. Ich habe jetzt meine Arbeit getan und den Film gemacht. Es ist total individuell, wie sich jede Person damit jetzt in Verbindung setzt und und aus welcher Haltung, aus welcher Lebensphase, aus welcher Tages oder Minuten-Stimmung heraus oder so. Das kann ich nicht mehr kontrollieren.
N: Wann hast du mit der Arbeit an dem Film begonnen?
NW: Mit dem Schreiben 2018. Wir dachten, dass wir Ende 2019 drehen. Es ist jetzt nicht so ungewöhnlich, dass die Leute glauben, sie drehen und dann dauert es doch viel länger. Aber in dem Fall ist es schon so eine Kette an ungünstigen Ereignissen dazwischengekommen, nämlich zuerst die Präsidentschaft von Bolsonaro in Brasilien, der sofort alle Filmförderung tiefgefroren hat. Auch die, die wir schon hatten, aber noch nicht ausgezahlt bekommen hatten. Das Jahr darauf war die Pandemie, die unter seiner Politik in Brasilien auch verheerend war. Erst in seinem vierten Amtsjahr, was gleichzeitig das Wahlkampfjahr war, sind die Gelder wieder geflossen für Kultur. Das war dann 2022, das Jahr, in dem wir gedreht haben.
N: Beteiligt an der Produktion sind Argentinien, Brasilien, Deutschland und Taiwan. Es gibt immer Schwierigkeiten bei der Filmproduktion, aber es muss auch besonders kompliziert gewesen sein.
NW: Es ist gut für manche Dinge und bringt andere Schwierigkeiten mit sich. Es bedeutet natürlich noch mehr Kommunikation. Sich noch mehr mit noch mehr Leuten verständigen über verschiedene Zeitzonen und Idiosynkratien, aber auch verschiedene Filmkulturen und Produktionskulturen. Natürlich gibt es viel Raum für Missverständnisse. Gleichzeitig haben wir in diesem Fall nur mit Ländern produziert, die tatsächlich Menschen an der Produktion beteiligt hatten. Wir haben jetzt kein Land dabei gehabt, was einfach nur als Produktionsland mitmacht und das vielleicht mit Ideen kommt wie „okay, dann brauchst du jetzt aber auch einen chilenischen Schauspieler oder eine holländische Schauspielerin“ oder so etwas. Was in dem Film wahrscheinlich auch kein Problem gewesen wäre einzubauen. Bei uns haben alle Produktionsländer total Sinn gemacht, weil Xiao Xing in Argentinien lebt, ein Teil der Crew kam aus Argentinien, das Land, das mein zweites Zuhause ist. Und Taiwan war fundamental. Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten, ohne diese Unterstützung.
N: Und diese Produktionsländer haben auch mitgemacht.
NW: Nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich. Justine, die Taiwanesische Produzentin ist für einen ganzen Monat nach Recife gekommen, während der Vorbereitung, um ganz viel mitzuhelfen. Wenn man mit einem Cast arbeitet, was aus so vielen verschiedenen Ländern und Sprachen kommt und es keine gemeinsame Sprache gibt, die alle sprechen, muss man ein eigenes Übersetzungssystem erfinden. Gleichzeitig gibt es eine Sprache, die ich überhaupt gar nicht verstehe. Mandarin kann ich wirklich nicht. Da war Justine total fundamental. Wir haben ziemlich viel geprobt. Es ist ja hauptsächlich ein Cast von Menschen, die das allererste Mal vor der Kamera stehen. Da ging es natürlich um Training, um vor der Kamera sein zu können. Ich finde immer das Wichtigste, wenn man mit Menschen arbeitet, die das noch nicht gelernt haben, denen zu helfen, den Techniken zu zeigen. Zu helfen, Wege zu finden, wenn es dann soweit ist und nicht in ihrem eigenen Kopf stecken zu bleiben. Nicht mehr aus diesem “Ich” raus zu kommen und wirklich sich auf die Situation einzulassen, sich auf die anderen Menschen zu konzentrieren und auf sie zu reagieren. Das war das Wichtigste in den Proben, was das Schauspiel betrifft, aber genauso wichtig war, eben diese gemeinsame Sprache zu entwickeln, eine Verständigungsebene über alle Übersetzungen hinweg, die für uns alle gilt, da wir eben alle aus verschiedenen Sprachen kommen. Das dritte, extrem Wichtige war, dass da ein Vertrauen entstanden ist. Diese Basis von Vertrauen, die für alles, was kommt, die Voraussetzung ist. Das vierte wichtige war, dass diese Besetzung, alle Haupt und Nebendarstellerin, die Chinesisch sprechen, auf den Proben ganz viel über die Texte diskutieren konnten, weil ich das Drehbuch auf Spanisch geschrieben habe. Dann habe ich es auf Deutsch geschrieben, dann wurde es irgendwie von Spanisch nach Englisch übersetzt und dann wurde es nach Mandarin übersetzt. Der Text hat erst mal so nicht funktioniert. Sie mussten ganz viel untereinander diskutieren und ihn in ihre eigenen Worte übersetzen. Immer wieder in Rücksprache mit mir. Was für mich natürlich auch eine Herausforderung war, weil ich nicht sagen konnte „Ja, das ist richtig und das ist falsch”. Sie konnten immer nur wieder auf Umwegen erklären, was sie da schreiben oder was sie ändern wollen. Es war ein ständiges, niemals endendes Übersetzungsprozess. Das war total wichtig, weil sie sich dadurch den Text angeeignet haben. Und an dem Tag, an dem eine Szene gedreht wurde, konnten alle einfach ihren Text sprechen. Dadurch waren sie nicht mehr mit ihrem Kopf oder dem Text beschäftigt, sondern konnten einfach in der Situation sein und spontan sein.
N: Wie war der Castingprozess beim Film?
NW: Lang und kompliziert, Weil ich den Film ursprünglich für die Darstellerin von meinem letzten Film „El Futuro Perfecto“ geschrieben habe. Mit diesen ganzen Verschiebungen während der Pandemie ist ihr so was ähnliches passiert wie den Menschen in dem Film. Nämlich, dass sie irgendwann gesagt hat „Mir reicht’s, ich gehe zurück nach China„. China hatte diese Null-Covid Strategie, wo sie erstmal sechs Wochen in Quarantäne war. Es war sehr lange Zeit. Das Leben war richtig schwierig für sie. Nach einem Jahr hatte sie endlich einen Job, der ihr gefiel und dann wollte sie nicht den riskieren und hat sich dann entschieden nicht nach Brasilien zu kommen Ich hatte im Film beide Hauptrollen für sie ursprünglich mit einer anderen Struktur geschrieben. Ich musste ganz von vorn anfangen. Ich war mit ihr zweimal länger in Recife gewesen, bevor ich angefangen habe zu schreiben und währenddessen. Wir haben zusammen wie Feldforschung betrieben zu den ganzen chinesischen Importgeschäften. Es gibt kaum sozialwissenschaftlichen Arbeiten oder Erhebungen. Sogar ganz wenig über die chinesischen Communities in den südamerikanischen Metropolen. Also haben wir unsere eigene Feldforschung gemacht und haben ganz viele Menschen interviewt und bei denen Praktika gemacht in ihren Warehouse und Shops. Wir haben ganz viel Material gesammelt fürs Drehbuch. Natürlich hatte ich insgeheim immer eine Vorstellung von bestimmten Personen, die ich kennengelernt hatte und bei mehreren Besuchen wiedergetroffen habe. Ich hatte gehofft, dass wir zusammenarbeiten könnten und als ich zurückkam, nach diesen drei ersten Jahren Bolsonaro und Pandemie, war kaum mehr jemand von diesen Leuten da.
In Recife waren ganz viele zurückgegangen nach China. Wir haben ein Laiencasting angefangen in Recife und sind in die größte Stadt von Brasiliens Sao Paulo gegangen, wo alle Communities der Welt vertreten sind. Karina Nobre hat die Suche nach den Laiendarstellern übernommen. Für die Professionellen war Gabriel Dominguez zuständig. Ich habe Xiao Xing eingeladen, die ich kannte aus Buenos Aires, die einen kleinen Auftritt hatte in meinem vorherigen Film. Kai habe ich kennengelernt, als ich unterrichtet habe an der HfbK Hamburg. Wenn man Laien castet, geht es um die Qualitäten oder die Eigenschaften, die sie von sich aus mitbringen.Durch Online Casting haben wir Wang Shin-Hong gefunden, der eher ein hybrider Schauspieler ist. Er ist eher jemand, der auf vielfältige und nicht so eindeutige Art und Weise im Film arbeitet. Das fand ich spannend, weil ihm das dazu prädestiniert hat, eine Neugierde auf die Laiendarstellerinnen mitzubringen. Ich konnte also davon ausgehen, dass er sich denen anzupassen kann. Genauso wie Nahuel Pérez Biscayart, der die kleine Rolle hat von Leo, der mit dem zusammen lebt. Ich wusste, dass er so vielfältig interessiert ist und eigentlich noch mehr an der Welt als am Kino interessiert ist und neugierig genug ist.
N: Und im Idealfall würdest du mit Laien-Schauspielerinnen zusammenarbeiten oder auch mit professionellen Schauspielerinnen. Hängt das vom Projekt ab?
NW: Weil es mein fiktivstes und auch konventionell produziertes das Projekt so weit war, fand ich es hier spannend zu mischen. Wenn die Berufsschauspieler*innen so gut sind, dass sie diese Regeln verstehen und auf die anderen eingehen, müssen sie dafür eine große Sicherheit haben. Dann potenzieren sie sich gegenseitig. Es trägt noch dazu bei, dass die Laien das Spiel ernst nehmen. Darum geht es ja, dass man spielt. Aber dass man es ernst meint, nicht albern spielt, sondern so spielt, dass man diese imaginären Situationen genauso ernst nimmt, wie diese Situation hier gerade und genauso agiert. Die Präsenz von Nahuel oder Shin-Hong hat ganz viel zu beigetragen. Nahuel hat so eine ganz tolle, feine Art, weil seine Szenen waren immer Gruppenszenen über längere Zeit und mit ganz vielen Leute. Er hatte ein feines Gefühl für Rhythmus und für den Bildausschnitt.
N: Rassismus ist ein subtiles Thema im Film, manchmal auch explizit. Wie habt ihr das Thema behandelt?
NW: Es gab eine Einigkeit darüber, dass es wichtig ist, diese Dinge zu thematisieren und sie zu zeigen. Die Türme, also der Wohnturm, in dem die Gruppe in dem Film lebt, basiert auf den Zwillingstürmen in Recife, die ein unter Korruption illegal errichtetes Luxuswohnprojekt sind, was diese Altstadt aufwerten sollte. Das Projekt besetzt den Zugang zum Meer, setzt sich über sämtliche Regeln, städtebaulichen Regeln hinweg und wendet der Stadt und dem öffentlichen Raum tatsächlich explizit den Rücken zu. Das steht für eine urbanistische Politik, die eine Stadt für die Reichen gestaltet. Es ist ein Wohnkomplex, der für die extreme Trennung von Klassen steht. Diese Klassentrennung ist überall auf der Welt, glaube ich, aber ganz deutlich in Brasilien auch eine rassistische Klassentrennung. Diese Wohnungen sind riesengroß und haben immer ein oder zwei winzige Zimmerchen für Bedienstete, die gewöhnlich in den Familien leben, aus der Unterschicht kommen und häufig Mütter sind. Sie lassen ihre Kinder in der Obhut ihrer Großmütter und besuchen ihre Viertel mehr oder weniger selten. Diese Wohnungen werden von den chinesischen Gruppen anders belegt.
Die Brasilianer*innen, die hinter und vor der Kamera an dem Film beteiligt waren, regen sich wahnsinnig über diese Zwillingstürme auf. Es gab von allen das Bedürfnis, einen Film darüber zu machen, der diese Türme thematisiert. Zu denen gehört dieser Rassismus. Das ist relativ glimpflich, was im Film passiert im Verhältnis zu dem, was den Chines*innen in ihrem Alltag passiert. Es gab innerhalb unserer Crew eher Diskussionen darüber, dass in unserem Cast relativ stark, die Klassenverhältnisse, die auch mit Hautfarbe verbunden sind, reproduziert werden. Dass die Leute, die die Oberschicht im Film darstellen, tendenziell weiß sind und die Menschen, die in Dienstleistungen arbeiten, tendenziell schwarz sind. Wir haben versucht es anders zu machen. Aber es ist kein Film, der explizit viel Raum hat, um die komplexe Geschichte der brasilianischen Verhältnisse zu erzählen, weil er zwei Idiosynkrasien voraussetzt, die beide nicht hegemonial sind. Nämlich zum einen die aus Recife, aus dem Nordosten Brasiliens, und zum anderen eine chinesische, migrantische. Das ist an sich schon viel komplexer. Ich habe erst beim Machen gemerkt, wie schwierig das ist, was ich alles voraussetzen muss und was doch immer wieder mit erklärt werden muss. Wann werde ich in meinen Erklärungen lehrerhaft und wann lasse ich zu viele Zuschauer*innen draußen? Deswegen habe ich mich immer wieder dafür entschieden, doch diese „Color Line“ konventionell mit zu inszenieren. Ich habe den Leuten gesagt, dass es in diesem Film kaum einen anderen Weg gibt, weil wir hier leider keinen Raum haben, um diese Realität zu verändern, die auch in brasilianischen Filmen viel verändert wird und die auch in der Realität viel versucht wird zu verändern. Das hat alles meinen höchsten Respekt. Aber in diesem Film, wo alles Brasilianische so implizit mitläuft und eigentlich nur in so kleinen Szenen auftaucht, hatte ich nicht gesehen, dass das funktionieren kann, wenn wir die Color Line durchbrechen.
N: Kai fragt einen Übersetzer im Film zur Sprache und sagt „I don’t want to offend you, but it is my impression that we can hardly understand each other in our own language.“ Wie stehst du zu Übersetzung?
NW: Sie ist ein wahnsinnig spannendes Problem. An sich sind Sprache und Kommunikation wahnsinnig spannende Probleme. Das ist ja, womit ich arbeite. Mit Kommunikation und Missverständnissen. Auch wenn wir dieselbe Muttersprache sprechen, kommt es häufig zu Missverständnissen. Wir glauben nur, dass wir uns verstehen. Das habe ich erst richtig verstanden, als ich angefangen habe, in einer fremden Sprache zu leben. Von daher sehe ich mich eigentlich als Übersetzerin. Mit Übersetzung meine ich alles Mögliche. Da wir sowieso mit diesem Problem leben müssen als condicion humana, können wir genauso gut versuchen zu übersetzen. Weil es auch schwer ist, sich auf Deutsch zu verstehen, kann ich genauso gut versuchen, mich mit einer Person zu verstehen, deren Muttersprache chinesisch ist und wir irgendwie nur über eine dritte gemeinsame Sprache wie Englisch oder Spanisch Übersetzung zueinander finden. Ich habe da weniger Angst davor, weil es sowieso so schwierig ist, sich zu verstehen. Ich gehe sowieso davon aus, dass es zu ganz vielen Missverständnissen kommen wird. Was mir aber Motivation gibt, sind die geteilten Erfahrungen, die wir trotzdem haben können, alles was wir trotzdem zusammen machen und schaffen können, obwohl wir glauben, dass wir keine gemeinsame Sprache haben. Zum Beispiel in Filmen. Der Film ist ja nicht mein Film, es ist unser Film. Es gibt keine gemeinsame Sprache und trotzdem haben wir zusammen einen Film gemacht.
N: Der Film gibt den Figuren ganz viel Raum und es gibt Raum für Stille, Für Ruhe, für Nachdenken. Und dadurch entsteht eine besondere Wahrnehmung von den Geräuschen. Man nimmt den Raum anders wahr. Was waren deine Gedanken hinter dem Sounddesign?
NW: Es ist ein narrativer Film und doch wollte ich keine lineare Dramaturgie. Für mich ist der Zustand, in dem sich die Figuren befinden; ein Schwebezustand, in dem sie manchmal irgendwo andocken und dann weiterschweben. Deswegen gab es nie den Versuch, eine stringente, handlungsgetriebene Logik zu haben, die irgendwo hinführt. Von daher hat die Tonmeisterin in Argentinien früh gesagt, als sie den Rohschnitt gesehen hat, „es ist ein total atmosphärischer Film.“ Das war mir gar nicht so bewusst, weil man alles so intuitiv macht. Später versteht man die Logik hinter bestimmten Sachen immer, so wie wir im Sprechen auch immer nur teilweise zueinander finden und teilweise nicht. Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen einem immer wieder etwas bewusst wird. Für mich war das, als die Tonmeisterin meinte „wir brauchen viele Wochen Tonarbeit, weil dieser Film vom Ton leben wird, weil es ein total atmosphärischer Film ist.“ Das war mir nicht klar.
Der Ton ist für mich eine Möglichkeit, immersiv zu werden. So wie die Hauptfiguren in diese Stadt, in diese Lebensphase, geworfen sind und relativ wenig verstehen von dem, was um sie passiert, wollte ich, dass die Zuschauerinnen auf irgendeine Ebene nach Recife kommen. Ich wollte, dass sie einfach in den Film geworfen werden, indem sie erst mal komplett desorientiert sind und nicht wissen, was wohin läuft und worauf das alles hinausläuft, aber gleichzeitig irgendwie da reingezogen werden und in der Atmosphäre sind. Ton gibt diese Möglichkeit. Dass du nicht nur diese Distanz zu der Leinwand hast und diesem Bild da vorne zuguckst, sondern wirklich in diesen Wellen sitzt und davon umgeben wirst. Ich höre einfach total gerne. Ich laufe viel durch die Stadt und konzentriere mich nur aufs Hören. Vielleicht habe ich mehr Affinität zum Ton als zum Bild. Mir fällt es eigentlich viel leichter. Ich kenne andere Regisseurinnen, die hier sitzen und überlegen, wie sie das Gespräch hier auflösen würden. Unsere Szene und ich würde eher hier sitzen und horchen. (Sie zeigt) Dieses Schlüsselbund, da wird aufgeräumt, Stühle gerückt, da gibt es Murmeln und es gibt weiter weg den Zug und und den Park. Man kann natürlich andere Sachen machen. Aber für mich ist erst mal logisch, wenn es so viele Tonlayers gibt, dass auf Bildebene eher weniger passiert, also nicht so schnell geschnitten wird, die Bilder eher leer sind und viel über das außerhalb des Bildausschnitt erzählt wird.
N: In diesem Off-Räumen passiert ja ganz viel: es gibt zwei Todesfälle im Film, beide auf eher spezifische Weise dargestellt. Wie bist du mit dem Thema filmisch umgegangen?
NW: Das sind dokumentarische Funde insofern, als dass das alles Erzählungen von Menschen sind, die ich auf Recife interviewt habe. Da gibt’s zwei ganz verschiedene Probleme. Das eine ist die reale Bedrohung, der jeder Mensch ausgesetzt ist, der in so einer Stadt wie Recife in diesen Verhältnissen arbeitet. Es gab eine ganz konkrete Erzählung über jemanden, der genauso wie Leo im Film umgebracht wird. Es gab aber auch ganz viele andere Erzählungen über Tod und Gewalt. Das ist mit der Frage nach Rassismus verknüpft. In einer ganz frühen Fassung hatte ich noch expliziter Szenen, wo zum Beispiel Kai, die Touristin, auf der Straße überfallen wird oder wo expliziter diese Stereotypen, Gefahrensituationen, die man von Südamerika “erwartet”, passieren. Da habe ich mich gefragt: Wie würde ich das denn inszenieren? Wie würde ich die Darstellerinnen besetzen? Und da hab ich gemerkt, das ist total absurd, dass ich nach Brasilien gehe und diese Art von Situation inszeniere. Dann würde ich wirklich in rassistische Stereotypen fallen. Ich will solche Geschichten nur andeutungsweise erzählen, wie zum Beispiel die Fahrstuhlszene. Die Protagonistinnen kommen von woanders und sind vielem ausgesetzt, was teilweise an sie rankommt und teilweise abstrakt bleibt in der ganzen Kausalitätsverkettun und sich nie richtig klärt.
Der andere Tod, der vom Onkel, das ist eine ganz komplexe Familienaufteilung, die ich immer wieder in chinesischen Migrant*innen-Familien in Buenos Aires genauso wie in in Brasilien erzählt bekommen habe. Häufig, wenn Kinder geboren werden, werden sie mit 1 oder 2 Jahren nach China, eigentlich alle früher oder später, nach China geschickt, um dort ihre Kindheit zu verbringen und da groß zu werden, während die Eltern in Südamerika Geld verdienen und die Familie versorgen. Weil es diese Idee gibt, dass sie chinesisch aufwachsen sollen. Da ist noch die Frage, was mit ihrer Pflege passiert, wenn sie älter werden, wenn sie krank werden und der Tod kommt. Ich habe mich gefragt, warum?Warum ist diese Tante immer noch da? Warum ist die Frau noch da auf die sie basiert? Es gibt immer diesen Traum zurückzugehen, von allen chinesischen Immigrant*nnen dieser Generation, von allen, mit denen ich gesprochen habe, von allen Eltern der Jüngeren. Alle wollen zurückgehen. Und dann ist mal die Frage, wenn man doch Geld verdient hat, ob man sich mit dem Land immer noch auskennt. Aber der Film hatte nicht die Möglichkeit, das alles zu erzählen. Für mich hat deswegen die Krankheit und der Niedergang des Onkels diese Zerrissenheit, dass man eigentlich in das Land zurückgehen möchte, was man immer noch als Heimat begreift. Es ist ja auch leichter, wenn man nicht da ist zu sagen “das ist meine Heimat” Und wenn man aber da ist, merkt, „ich kenn mich überhaupt nicht mehr aus“.